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Mit singendem Bürgermeister, Heavy Metal und Kaninchen gegen Rechts

Gräfenhainichen zeigt Gesicht

Gräfenhainichen ist eher ein beschaulicher Ort. Die 8000-Seelen-Gemeinde im Landkreis Wittenberg liegt umrahmt von ausgedehnten Wäldern und dem Tourismusmagnet Ferropolis (mehr dazu hier...) in der Dübener Heide. Ein idyllisch-provinzieller Fleck Sachsen-Anhalt, der in der Vergangenheit höchstens dafür überregional bekannt war, dass sich auf den Strassen viele nichtrechte Jugendliche tummeln, die sich der jugendkulturellen Hardcore-Szene zugehörig fühlen. Also eher kein Ort, an dem sich der organisierter Rechtsextremismus breit machen konnte und rechte Schläger Minderheiten terrorisieren? Diese erfreuliche Bestandsaufnahme stimmt nur noch zum Teil. Die Idylle hat seit einiger Zeit Risse bekommen und die organisiert verfasste rechte Szene versucht zusehens, in der Heidestadt Fuß zu fassen (mehr dazu hier...). Auch wenn Gräfenhainichen beileibe noch kein Leuchtturm rechter Gewalt und neonazistischer Aktivitäten in Sachsen-Anhalt ist, haben bei einigen Akteuren in der Stadt - und dies ist im Osten der Republik immer noch nicht selbstverständlich – die Alarmglocken geläutet. Sicherlich wurde die lokale Zivilgesellschaft vor allem durch eins aufgerüttelt: Eine geplanter NPD-Aufmarsch am 06. Oktober 2007.



das Motto in Gräfenhainichen: "Bunt statt braun!"



Während die NPD-Anhänger und die mit ihnen eng verbundenen gewalttätigen  Neonazis aus den Kameradschaften am vergangenen Samstag zu Hause bleiben mussten, machte in Gräfenhainichen fast alles mobil, was laufen konnte (mehr dazu hier...): Vom Ortsbürgermeister Harry Rußbült, dem zuständigen Landrat Jürgen Dannenberg (beide Die LINKE), Bundes- und Landtagsabgeordnete und der Jungen Union, über den örtlichen Sportverein VFL Gräfenhainichen, die Freiwillige Feuerwehr, den lokalen Kirchenvertretern, Schulen, dem Angelverein und den Freunden der Kaninchenzucht, bis hin zum Netzwerk Zivilgesellschaft Anhalt (mehr dazu hier...), dem Mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus (mehr dazu hier...) und der Antifa. 


fast 500 Menschen zogen durch die Stadt...


...mit dem Bürgermeister Harry Rußbült (2. v. r.) an der Spitze

Dabei fiel es dem breiten Aktionsbündnis an diesem Tag nicht sonderlich schwer, alle öffentlichen Plätze zu besetzen und diese so nicht den Rechtsextremisten zu überlassen. Der Polizeidirektion Dessau-Roßlau war es nämlich zum wiederholten Male gelungen, eine gerichtsfeste Verbotsverfügung zu erlassen. Offensichtlich macht der neue Polizeipräsident, Karl-Heinz Willberg, mit seiner Ankündigung ernst, seine Beamten noch stärker für die Bekämpfung des Rechtsextremismus zu sensibilisieren. Eine Vorgabe der zu wünschen ist, dass sie auch in andere Polizeidirektionen Sachsen-Anhalts hineinstrahlt. 

  





Der Naziaufmarsch durfte einfach nicht stattfinden. Die Behörde verbot den Aufzug, wie einige Wochen zuvor bereits geplante NPD-Demos in Zerbst (mehr dazu hier...) und in Aken (mehr dazu hier...) unter anderem mit der Begründung, dass die Anmelderin Carola Holz (NPD) bei einem Kooperationsgespräch das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkannt habe (mehr dazu hier...) und außerdem bei dem Gespräch einen Neonazis im Schlepptau hatte, gegen den die Polizei später ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung einleitete. Holz, eine maßgeblich Figur des parteipolitisch verfassten Rechtsextremismus in der Region (mehr dazu hier...), die über enge Kontakte zu gewalttätigen und vorbestraften Neonazis verfügt, ist inzwischen zur Interimsvorsitzenden der NPD in Sachsen-Anhalt avisiert. Die Abgeordnete im Kreistag Anhalt-Bitterfelds ist es auch, die maßgeblich für die Umsetzung der NPD-Strategie in der Region Anhalt/Wittenberg verantwortlich zeichnet, vom Lande her die größeren Städte zu erobern. Die praktische Konsequenz dieser Vorgehensweise: Rechtsextreme Aufmärsche eher in Kleinstädten abzuhalten. Davon erhofft sich die NPD einerseits, gerade in strukturschwachen Regionen als Anwalt des kleinen Mannes wahrgenommen zu werden und sich somit als kommunalpolitischen Faktor zu etablieren. Anderseits verfolgt die neonazistische Kampfpartei dieses Konzept weil sie davon ausgeht, dass in kleinen Gemeinden und Städten ihre Aufmärsche relativ ungestört über die Bühne gehen. Zumindest in Gräfenhainichen, hat die NPD am 06. Oktober 2007 diese Rechnung ohne die demokratisch Zivilgesellschaft gemacht.






ein Vierbeiner mit einer klaren Positionierung



Fast 500 Menschen versammeln sich bei zunächst schmuddligen Herbstwetter am Morgen auf dem Bahnhofsvorplatz, um unter dem Motto: "Bunt statt Braun - gemeinsam der NPD entgegenstellen!" durch die Strassen der Stadt zu ziehen. Bevor es so richtig los geht, steht die obligatorische Auftaktkundgebung auf dem Programm. „Wir haben eine Menge Glück, die NPD-Demo ist verboten“, sagt Ulf Kühnemund mit heiserer Stimme ins Mikro. Der Gräfenhainicher Unternehmer hat die Demonstration angemeldet und die demokratischen Aktivitäten im Vorfeld maßgeblich koordiniert. Seine Hauptbotschaft dröhnt an diesem Tag gleich mehrmals aus den Lautsprecherboxen: „Gräfenhainichen ist bunt, nicht braun!“. Während eine regionale Hip Hop-Band ihre Statements, die auf den eher gesetzteren Teil des Protestpublikums manchmal schon etwas gewöhnungsbedürftig wirkt, auf den Platzt rappt, macht sich Bürgermeister Harry Rußbült für seinen ersten Auftritt an diesem Tag fertig. Sein Resümee fällt genauso knapp wie eindeutig aus: „Es ist gut zu sehen, dass Gräfenhainichen einer braunen Flut entgegentreten kann“.


Ulf Kühnemund vom Aktionsbündnis bei einer waghalsigen Hängepartie

Auf dem Weg vom Bahnhof zum Marktplatz werden in mehreren Redebeiträgen die rechtsextremen Strukturen der Region und deren Strategien beleuchtet. So erfährt der geneigte Zuhörer, die oft zitierten Klischees von Neonazis, also Springerstiefel, Glatze und Bomberjacke, heute so nicht mehr stimmen würden. Vielmehr sei es der rechten Szene gelungen, in andere Jugendsubkulturen hineinzuwirken und sich dort festzusetzen: „Sie haben die Jugendsubkultur nicht missbraucht, sondern sind in diese eingedrungen“. In einigen Regionen, sei es Neonazis bereits gelungen, die jugendkulturelle Vorherrschaft auf der Strasse und in den Jugendclubs zu erringen: „Die Grenzen zu anderen Jugendkulturen sind fließend geworden“. Die NPD und die neonazistischen Kameradschaften seien darüber hinaus verstärkt bemüht, „sozialpolitische Themen aufzugreifen und sich als Systemopposition zu begreifen“.









Außer Hundehaufen heute nichts Braunes“, diese euphorische Aussage eines Polizeibeamten wurde wenig später leider ad absurdum geführt. Als der Demozug die Schlossstrasse erreichte, bewarfen sieben lokale Rechtsextremisten aus einem Privathaus heraus einige Demonstrationsteilnehmer mit Eiern und filmten diese unerlaubterweise mit einer Kamera. Die Polizei stürmte das Haus und stellte die Personalien der mutmaßlichen Neonazis fest. Außerdem wurde die Kamera beschlagnahmt. Die Polizei ermittelt nun wegen Beleidigung, Sachbeschädigung und dem Verstoß gegen das Kunsturheberrechtsgesetz. Darüber hinaus erstattete ein engagierter Bürger Anzeige wegen des Zeigens des verbotenen Hitlergrußes.

Von diesen  Provokationen von Rechts ließen sich die BürgerInnen jedoch nicht beirren. Die Demo traf schließlich am Rathaus der Stadt ein und mündete dort in einen buntes Fest „Für Demokratie und Toleranz“. Wer ein solches Event schon einmal besucht hat, stellt oftmals etwas desillusioniert fest, dass man dort in der Regel nur auf die üblichen Verdächtigen trifft. Das war in Gräfenhainichen diesmal wirklich anders. Mit einer kreativen Mischung aus Stadtfest, Anti-Nazi-Statements und den notwendigen Imbissbuden zeigte Gräfenhainichen an diesem Tag, dass viele BürgerInnen ernsthaft an einer demokratischen Kultur in ihrer Stadt interessiert und gewillt sind, neonazistische Umtriebe zu ächten. Dieser doch eher ungewöhnliche Melange zeigte sich dann auch in dem sehr kreativ-skurrilen Bühnenprogramm. Mit ihrer „kurzen brachialen Einwirkung auf das Mittelohr“ begann die Percussion-Truppe „Hyper akusis“ vom Paul-Gerhardt-Gymnasium die Show und zauberte Funkrock-Klänge auf den Marktplatz. Mit Kopfwackeln, Nietengürteln und angsteinflössenden Interjektionen positioniert sich auch die Metal-Band „Curator“ gegen Rechts.


brachialen Einwirkung auf das Mittelohr: „Hyper akusis“


Moshen gegen Rechts: „Curator“ 


auch dieser Graue ist nicht braun







Der parteiübergreifende und musikalische Höhepunkt ist aber zweifellos eine andere Combo. Schon kurz vor dem Auftritt machte das Gerücht die Runde, dass Harry Rußbült seinen Beitrag auf der Bühne singen wolle. Die schlimmsten Befürchtungen, dass dies doch eher eine peinliche Nummer werden könnte, bestätigten sich indes nicht. Ganz im Gegenteil. Die lokale Medien- und Politikprominenz überraschte mit rockigen Gassenhauern aus den 1970iger Jahren ebenso, wie mit soulastigen Stücken. Mit Rußbült an der Gitarre, seinem Amtskollegen aus Tornau, Enrico Schilling (CDU) am Schlagzeug, der Sängerin Julie Sander, dem Journalisten Marian Krumbiegel, Bernd Sauerwald von der hiesigen Musikschule und Patrick Siebert gelang es dem Sextett, einen Sound hinzulegen, der ankam und sogar einige dazu bewegte, dass Tanzbein zu schwingen. „Die Bürger haben Gesicht gezeigt gegen rechte Gewalt“, fasst Schilling die Grundstimmung von der Bühne aus treffend zusammen.


Harry Rußbült an der Gitarre...


... und Enrico Schilling an den drums

Nicht zu vergessen die zahlreichen Aktivitäten, die am Rande angeboten wurden. So konnte man seinen Astralkörper durch das Bewegen von Gewichten weiter stählern, sich von Clowns anmalen lassen, den ganzen Stolz der Kanichenzüchterelite bewundern, am Spielmobil auf Bierkästen steigen (um dann wieder herunter zu fallen) oder „Kilometer gegen Rechts“ erlaufen.







Ein voller Erfolg“, wie Ulf Kühnemund am späten Nachmittag etwas ermüdet in den Schreibblock diktiert. Dieser Analyse ist nichts hinzu zu fügen.

verantwortlich für den Artikel: 
                     
        

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