„Vor was habt ihr eigentlich Angst?“

165 Menschen haben erneut ein friedliches, buntes und kreatives Zeichen für Vielfalt, Weltoffenheit und eine gelebte Willkommenskultur in Roßlau gesetzt

Zum TOLERANZPICKNICK gibt´s Kamillentee, Muffins und lecker Suppe, fast stellt sich so etwas wie Gemütlichkeit ein. Aber eben nur fast. Der Anlass für die Teilnehmer aus Kirche, Vereinen, demokratischen Parteien und Institutionen am 13. Oktober 2015 dem Protestaufruf des Netzwerks GELEBTE DEMOKRATIE nach Roßlau zu folgen, passt eher zum kalten und schmuddeligen Oktoberwetter.

Zum TOLERANZPICKNICK gibt´s Kamillentee, Muffins und lecker Suppe, fast stellt sich so etwas wie Gemütlichkeit ein. Aber eben nur fast. Der Anlass für die Teilnehmer aus Kirche, Vereinen, demokratischen Parteien und Institutionen am 13. Oktober 2015 dem Protestaufruf des Netzwerks GELEBTE DEMOKRATIE nach Roßlau zu folgen, passt eher zum kalten und schmuddeligen Oktoberwetter.

Nazis und Rassisten sind zum zweiten Mal in den überelbischen Stadtteil gekommen, um gegen eine geplante Flüchtlingsunterkunft Stimmung zu machen – nein puren Hass zu versprühen. Dagegen wurde auch diesmal mit einer symbolischen Menschenkette und einer Protest-Laola klar Kante gezeigt. Und der nächste braune Aufzug ist schon angekündigt, er findet in einer Woche statt.

Zunächst deutet noch nichts auf eine Aktion hin, auf den Bierzeltgarnituren herrscht gähnende Leere und der verwaiste Pavillon auf der grünen Wiese gibt ein leicht deplatziertes Bild ab. Höchstens das Polizeiaufgebot lässt vermuten, dass heute in der Roßlauer Waldstraße etwas bevorsteht. Schließlich kommen immer mehr Menschen zusammen, die nicht nur die obligatorischen Regenbogenfahnen, bunten Pappschilder oder die mit viel Liebe zum Detail gestalteten Eimer dabei haben. Aus vielen Körben und Thermoskannen duftet und qualmt es und selbst zwei Campinggrills werden zwischen Marmorkuchen, Fettschnitten, Obsttellern und „irgendetwas mit Schafskäse“ aufgebaut.

Spätestens als dann noch aus den Boxen interkulturelle Weltmusik schallt ist klar, die Idee eines TOLEREANZPICKNICKS wird angenommen. Ob dieser guten Stimmung verwundert es kaum, dass der Moderator Daniel Kutsche vom Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE wenig Mühe hat, die Leute zu erreichen: „Danke, dass sie heute zu unserem Picknick gekommen sind, mit dem wir die Flüchtlinge, die hier bald einziehen, herzlich willkommen heißen möchten“. Und während seine Empfehlung, „dass gegen das Bibbern nur tanzen hilft“, von einigen tatsächlich in rhythmische Bewegungen umgesetzt werden, formuliert er gleich noch eine Hoffnung hinterher: „Von den Damen und Herren da drüben im Nichtschmimmerbecken hören wir heute hoffentlich nichts“. Gemeint sind die Rechtsextremisten und Neonazis, die sich auf der anderen Straßenseite langsam sammeln. Diese Hoffnung sollte sich leider nicht bewahrheiten.

Diesen Ball nimmt Karin Hildebrandt als Gründungsmitglied von GELEBTE DEMOKRATIE zugleich auf und bekommt erstaunlicherweise bereits Szenenapplaus, noch bevor sie überhaupt ein Wort gesagt hat: „Fast jede Woche mache ich mit dem Netzwerk einen Infostand, da positionieren wir uns immer eindeutig gegen Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus“. Dafür bekommt sie noch mehr klatschende Zustimmung. Dann wird die Netzwerkaktivistin „sehr persönlich“, wie sie selbst sagt, viele der Zuhörer_innen berührt das augenscheinlich. „Ich wohne in einem Haus mit Migranten, ich lebe mit diesen Flüchtlingen Tag für Tag“, so Karin Hildebrandt. Wenn es einmal kleinere Probleme oder Irritationen gebe, werde miteinander geredet und alles kläre sich schnell auf. In Richtung der anderen Straßenseite deutend sagt sie in einem Brustton der Überzeugung: „Vor was habt ihr eigentlich Angst?“ Für sie ist klar, dass niemand ohne triftigen Grund Haus, Familie und Umfeld einfach so verlasse. Und noch eine andere Beobachtung, ganz offenbar mit einem demographischen Bezug, teilt sie mit der Kundgebung: „Ich freue mich über jede junge Familie die durch Dessaus Straßen flaniert, egal ob einheimisch oder zugewandert.“

Daniel Kutsche hat offenbar einen guten Tag erwischt – und diese Stimmung überträgt sich schlagartig. Nach nur einer bittenden Anmoderation erheben sich die Menschen von den Bänken, lassen ihr angebissenes Brötchen und den halb vollen Kaffeepott stehen und bilden eine Menschenkette um die Flüchtlingsunterkunft. Der Moderator erweist sich als perfekter Animator mit einem leichten Hang zur Übertreibung: „Die Kette ist ja 700, 800 Meter lang, nein sie reicht bis Griebo“. Und schließlich gelingt es Kutsche sogar, eine Protest-Laola in der Kettenformation zu initiieren. In der ersten Version werden dabei brav die Arme in die Höhe gereckt, in der anderen gibt es dann eine seitliche Schlängelbewegung. Eine perfekte Choreographie, die auch gegen die Kälte hilft.


Die Menschenkette um die Flüchtlingsunterkunft stand


Eine Protest-Laola inklusive

Menschenfeindlich und ohne jegliche Empathie geht es indes bei den Nazis zu. Der NPD-Stadtrat Thomas Grey, bereits ganz im Wahlkampfmodus, hat sich diesmal Verstärkung von einem geistigen Brandstifter aus der Parteizentrale geholt. Der NPD-Bundesvorsitzende Frank Franz, der ob seiner bürgerlichen Erscheinung als „Nazi mit Einstecktuch“ bekannt ist, hetzt gegen die „Asylflut“. Gekommen sind auch fast 150 Hartnazis aus dem militanten Kameradschaftsspektrum, die sich im Gegensatz zum NPD-Frontmann nicht die Mühe machen, ihre Gesinnung durch eine Mimikry in der Anzugsordnung zu kaschieren. Gespenstische Szenen spielen sich auf den nächtlichen Straßen Roßlaus ab. Halb größenwahnsinnig, halb drohend schallt es aus dem Aufmarsch: „Bürger lasst das Klotzen sein, auf die Straße reiht Euch ein“. Immer wieder wird „Wir wollen keine Asylantenheim“ skandiert. Und während aus den Lautsprechern Rechtsrockmusik, die Begleitmusik zu Mord und Totschlag, plärrt, schreit der Einpeitscher mit überschlagender Stimme ins Megaphon: „Kriminelle Ausländer raus, raus, raus“ und die Menge antwortet hasserfüllt: „und der Rest auch“. Ihren Höhepunkt findet diese braune Inszenierung derweil auf dem Roßlauer Marktplatz. Auch dort weitere Hasstiraden – und der Mob steht im Kreis und jubelt.


Die meisten Teilnehmer des Naziaufmarsch kamen aus dem militanten Kameradschaftsspektrum, wie hier der Dessauer Neonaziaktivist (ganz links) Christian W. (mehr dazu hier…)


Zurück zur „bunten Seite der Macht“, wie es eine Teilnehmerin des demokratischen Protestes auf ihrem Pappschild in die Welt hinaussendet. Daniel Kutsche fragt eher rhetorisch Karin Hildebrandt durchs Mikro, ob alles geklappt hat. Die Daumen des Gründungsmitgliedes von GELEBTE DEMOKRATIE gehen sichtbar nach oben.

Die Roßlauerin Mandy Münch macht schließlich das wahr, was sie vorher auf facebook angekündigt hat. Sie hat ein Toleranzgedicht geschrieben. Bevor sie es vorträgt berichtet die 27-Jährige davon, dass sie Kinder kenne, die wegen ihrer Teilnahme an der Protestkundgebung vor sieben Tagen (mehr dazu hier…) in der Schule angefeindet werden. Auch sie haben deswegen schon diskriminierende Äußerungen über sich ergehen lassen müssen. „ Mein Gedicht ist für alle Menschen, egal ob braun, schwarz, gelb oder rosa“, sagt sie schließlich.


Das Toleranzgedicht von Mandy Münch im Wortlaut

Diese Einstellung und Zuversicht werden Mandy Münch und ihre Mitstreiter_innen bald wieder brauchen. Haben die Nazis doch bereits angekündigt, mit ihrem Wanderzirkus in einer Woche wieder Station in Roßlau machen zu wollen.

INFOS / KONTAKT

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Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt