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        <home><04.12.2003>  Auf den Spuren der „Aktion Reinhard“ im
              ehemaligen „Distrikt Lublin“ – Gedenkstättenfahrt
        des Alternativen Jugendzentrums Dessau e.V.  Traditionell führte das AJZ auch in diesem Jahr in den Herbstferien
            eine einwöchige Gedenkstättenfahrt durch. Diesmal erkundeten
            wir die Region des ehemaligen „Distrikt Lublin“.  Die ursprünglich für 15 Personen konzipierte Gedenkstättenfahrt
          stieß auf so großes Interesse, dass wir die Teilnehmerzahl
          auf 17 Personen erhöhten. Da sich in der Region Lublin neben dem
          Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek auch zwei der Vernichtungslager
          der „Aktion Reinhard“ befanden (Belzec, Sobibor), über die kaum
          Vorkenntnisse vorhanden waren, war dies ein Schwerpunkt der Vorbereitung.
          Der andere Schwerpunkt war das verschwundene jüdische Leben in
          Lublin (Einführung in Geschichte, Tradition und Religion).  
          
            | Bei unserer Ankunft in Lublin wurden wir
                bereits von Ewa Kozlowska (Überlebende der KL Majdanek und
                Ravensbrück) erwartet, die es sich nicht nehmen ließ,
                uns zu begrüßen. Mit ihr verbindet uns seit zwei Jahren
                eine tiefe Freundschaft. Für den gleichen Abend lud uns
                Ewa zu sich nach Hause, wo sie bereits das Essen vorbereitet
                hatte, ein. Die gesamte Gruppe war tief beeindruckt ob dieser
                Gastfreundlichkeit. Ein Teil der Gruppe kannte Ewa schon von
                ihren Besuchen in Dessau, der andere Teil kam sofort in einen
                intensiven Kontakt mit ihr. Dies sollte die gesamte Gedenkstättenfahrt
                kennzeichnen.  Als eine neue Erfahrung begriffen die Jugendlichen
                auch, dass wir in einem Kloster untergebracht waren. Für
                viele war es die erste Begegnung mit Nonnen und Priestern. Am
                Nachmittag unserer Ankunft begleitete uns Johanna, die zwei Wochen
                vorher ihren ASF-Dienst in Lublin angetreten hatte, durch das
                Zentrum Lublins. Den Abend verbrachten wir bei Ewa – ein für
                alle unvergessliches persönliches Erlebnis.  |  |  
          
            |  | Der erste Programmtag stand im Zeichen
                der Spurensuche jüdischen Lebens in Lublin. Bewusst kam
                es uns Teamern darauf an, dies vor dem Besuch der Gedenkstätte
                Majdanek zu tun. In Majdanek sprechen Gaskammern und Krematoriumsöfen
                die Sprache des Völkermordes. Erkundet man die Jahrhunderte
                jüdischer Geschichte in Lublin, von denen nur noch wenige
                steinerne Zeugnisse Auskunft geben, wird dem Betrachter auf eine
                andere Art und Weise bewusst, was die Nationalsozialisten unwiederbringlich
                zerstört haben. Sehr gut kam bei den Teilnehmern die Art
                und Weise an, wie Herr Wysok den Rundgang vorbereitet hatte.
                Zunächst demonstrierte er im jüdischen Museum an einem
                Modell, wie Lublin vor dem Überfall der Deutschen ausgesehen
                hatte und wie sich das Leben in der jüdischen und in der
                Christenstadt abspielte. Anschließend konnte jeder das
                Museum individuell erkunden. Viele Bilder und Gegenstände
                erinnern an jüdisches Leben und Leiden in Lublin. Eine sich
                ständig wiederholende Geräuschkulisse verlebendigt
                für den Besucher die Bilder, so dass man bei Verlassen des
                Museums sich das Leben in den Strassen besser vorstellen konnte.
                Einige Häuser sind mit Gedenktafeln gekennzeichnet. Herr
                Wysok vermittelte an Beispielen die polnisch-jüdische Geschichte.
                Von Anfang an traten die TN mit ihren Fragen an ihn heran. In
                einem eindrucksvollen Film sahen und hörten wir die letzten
                Juden Lublins, von denen die meisten inzwischen auch verstorben
                sind. Später, auf dem neuen jüdischen Friedhof sahen
                wir das Grab von Herrn Honig, der erst vor drei Monaten verstarb
                und der sich als letzter um den alten jüdischen Friedhof
                gekümmert hatte. Alle in der Gruppe erfasste das Gefühl,
                dass jetzt fast 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
                das Ziel der Nazis, das Judentum zu vernichten, in der Region
                Lublin erreicht scheint. Auf dem alten jüdischen Friedhof
                erkundeten die Jugendlichen selbständig die Symbole auf
                den Grabsteinen und deren Bedeutung. Unser Weg ins Kloster zurück
                führte uns vorbei an der Talmudschule (Jeshiwa) und dem
                ehemaligen jüdischen Krankenhaus, heute staatliche Geburtsklinik.
                Wir alle sind an diesem Tag eingetaucht in eine verschwundene
            Welt, die ihr grausames Ende u.a. in Majdanek und Sobibor fand. |  
          
            | Der nächste Tag beinhaltete die
                Erkundung der Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers
                Majdanek. Zunächst sahen wir in der Gedenkstätte einen
                Film mit Bildern, die die Rote Armee nach der Befreiung des Lagers
                gemacht hatte, danach begann der Rundgang. An einzelnen Stationen
                ließ Herr Wysok Berichte von Zeugen einfließen, zeigte
                deren Fotos. Einige der Bücher dieser Überlebenden
                standen Teilnehmern seit dem Vorbereitungstreffen zur Verfügung.
                Auf großes Interesse stieß in der Ausstellung das
                in Dessau produzierte Zyklon B. Auch Ewas Jugendbild wurde entdeckt.
                Interessiert zeigten sich die Teilnehmer bezüglich der TäterInnen.
                Was waren das für Menschen? Sind sie nach dem Krieg zur
                Verantwortung gezogen worden? Zurück im Kloster sahen wir
                uns einen Film über den Düsseldorfer Majdanek-Prozess
                an, der sich diesen Fragen näherte. Am Abend fand das Zeitzeugengespräch
                mit Ewa statt, die anschließend Fragen beantwortete. Dass
                die Jugendlichen nach dem ereignissreichen Tag noch über
                drei Stunden jedem Wort der Zeitzeugin aufmerksam folgten, spricht
            für sich. |  |    Einen Tag später: Auf dem Weg nach Zamosc kurzer Zwischenstop
          in Izbiza. Hier zeigte uns Herr Wysok das Elternhaus von Thomas Tovi
          Blatt, einem Überlebenden des Vernichtungslagers Sobibor, der
          am Aufstand beteiligt war. Auch in Izbiza wird schnell deutlich: Es
          gibt kein jüdisches Leben mehr im Ort und das obwohl vor dem Krieg
          hier 3.600 Juden und lediglich 200 Christen lebten. Trauriges Zeugnis
          auch die wenigen Überbleibsel auf dem Friedhof. Erste Station
          in Zamosc war das ehemalige Gestapogefängnis, das nach 1945 der
          Inhaftierung und Misshandlung bis hin zur Ermordung von Polen durch
          das NKWD diente. Eindrucksvoll das von Schülern und Lehrern gepflegte
          Friedhofsgelände: Davidsterne, Christenkreuze und Rote Sterne.
          Im Zentrum verschlägt uns die Schönheit der Renaissancestadt
          die Sprache, nicht umsonst sollte aus Zamocs „Himmlerstadt“ werden.
          Die Synagoge beherbergt heute die Bibliothek. Schließlich kommen
          wir auch am Geburtshaus von Rosa Luxemburg vorbei. Ewa ist glücklich,
          denn sie kommt nur noch selten aus Lublin heraus und das sie jetzt
          immer einige der Jugendlichen um sich hat, macht sie besonders glücklich.
          Immer wieder haben diese neue Fragen an sie, die sie gern beantwortet.
          Zurück in Lublin folgten wir im Film „Die Verwandlung des guten
          Nachbarn“ den Spuren von Tovi Blatt. Die Orte in Izbiza, wohin er regelmäßig
          aus Amerika zurückkehrt, waren uns nun vertraut. Vor uns lag der
          Tag, an dem wir nach Sobibor fuhren. Am Abend, im jüdischen Cafe,
          sprachen wir darüber. Alle hatten ein flaues Gefühl. Was
          werden wir fühlen an diesem Ort, wo 250.000 Menschen ermordet
          wurden?  
          
            | Ewa ließ es sich nicht nehmen,
                uns auch dorthin zu begleiten. Doch zunächst stoppen wir
                wenige km vor Sobibor – in Wlodawa. Hier befindet sich einer
                der wenigen erhaltenen Synagogenkomplexe Polens (große
                und kleine Synagoge und Gemeindehaus). Wieder viele Bilder der
                Menschen, die aus ihrem Lebensumfeld gerissen und ermordet wurden.
                Wir sahen auch Bilder, die den Abtransport ins Vernichtungslager
                dokumentieren. Ängstliche, fragende Gesichter von Frauen,
                Männern und so vielen Kindern. Nur wenige km trennten uns
                von der Erde, in der ihre Asche bzw. ihre Leichen begraben sind.
                Dokumentiert ist aber auch, dass sie sich wehrten. Junge Juden
                aus Wlodawa schlossen sich den Partisanen an. Die Deportationen
                verliefen nicht immer so reibungslos wie sich das die Nazis wünschten.
                Und schließlich zeigt der Aufstand in Sobibor, dass sich
                die Opfer auch angesichts des Todes wehrten. In fünf Tagen
                (14.10.) jährt sich dieser Aufstand zum sechzigsten Mal.
                Die Gruppe hatte beschlossen, mit Rosen der Opfer von Sobibor
                und aller anderen Vernichtungsstätten, aber auch aller geleisteten
                Widerstände zu gedenken. Jeder sollte sich den Ort, an dem
                er seine Rose niederlegt selbst aussuchen. Schließlich
                standen wir mit Ewa auf der Rampe – dem damals inszenierten Bahnhof – von
                Sobibor. Hier endete der Leidensweg von polnischen, holländischen,
                französischen, tschechischen österreichischen, sowjetischen
                und deutschen Juden, die u.a. bereits Ghetto und oft tagelange
                Transporte (in Güterwagons gepfercht) hinter sich hatten.
                Kurze Zeit nach ihrer Ankunft wurden sie durch den so genannten „Schlauch“ zu
                den Gaskammern geführt – nackt und die Frauen mit zuvor
                geschorenem Haar. Herr Wysok zeigte uns nach der Besichtigung
                des kleinen Museums die wenigen Überreste des Vernichtungslagers.
                Schließlich liefen wir über einen betonierten Weg – wir
                standen auf der Asche bzw. auch teilweise über den Leichen
                der Ermordeten. Die meisten der Gruppe zogen sich zurück,
                wählten einen Platz, an dem sie die Rose niederlegten und
                hielten einen Moment inne. Vieles hatten wir erkundet und erfahren
                in dieser Woche, aber jetzt war der Moment, wo wir alle vor dem
                absolut Unbegreiflichen standen. Und auch oder gerade für
                Ewa war Sobibor zu viel. Bereits auf der Rampe standen ihr die
                Tränen in den Augen, erinnerte sie sich an die Deportation
                der Juden aus ihrer Heimatstadt Piotrkow Tribunalski, an junge
            Menschen, die sie kannte und nie wieder gesehen hat. |  |    Am letzten Tag fuhren wir nochmals nach Majdanek.
            Ein Teil der Gruppe recherchierte im Archiv verschiedene Themen,
            die sie im Verlauf der Woche besonders berührt hatten (u.a. Zyklon B, Dokumente über
          Ewa, Kinder von Zamosc, Täter). Über aus Dessau in den Osten
          deportierte Juden gab es keine Dokumente – das Schicksal vieler Menschen
          wird sich nie aufklären lassen. Der andere Teil der Gruppe absolvierte
          Film- und Fotoaufnahmen auf dem Gelände. Um 12.00 Uhr traf Ewa
          in der Gedenkstätte ein. Es folgte der unvermeidliche traurige
          Abschied verbunden mit der Hoffnung auf ein gesundes Wiedersehen im
          nächsten Jahr in Dessau.  Die umfangreichen Materialien werden im Dezember
            in eine Power Point Präsentation einfließen, die anschließend der schulischen
          und außerschulischen Bildungsarbeit zur Verfügung stehen
          soll. Die bereits vor der Fahrt begonnene Arbeit an einem Film über
          Ewa Kozlowska wird fortgeführt.  
 
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