Beratungsprojekte gegen Rechtsextremismus in Anhalt bilanzieren das Gesamtjahr 2011

erstmals Landkreis Anhalt-Bitterfeld Hochburg neonazistischer Aktivitäten in der Region // exorbitante Steigerung der verzeichneten rechtsextremen Ereignislagen um nahezu 100 Prozent geht auf das Konto von Propagandadelikten // Gewaltstraftaten um ein Viertel angestiegen


Die Zahlen und Analysen der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt (OBS) und des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus (Projekt gegenPart) beschreiben erneut ein deutliches Bild: In der Region Anhalt (Dessau-Roßlau, Landkreis Wittenberg, Landkreis Anhalt-Bitterfeld)  haben statistisch gesehen Rechtsextremisten fast jeden Tag Menschen bedroht, Aufmärsche organisiert, Propagandadelikte verübt und zugeschlagen. Erstmals seit Jahren führt der Landkreis Anhalt-Bitterfeld indes das regionale Ranking an. Dort konnten mit 15 Gewaltstraftaten fast zwei Drittel alle registrierten Delikte in diesem Bereich festgestellt werden. Hinzu kommt, dass zwischen Aken und Zerbst die so genannten Propagandastraftaten im Vergleich zum Berichtszeitraum 2010 (mehr dazu hier...) um über 100 Prozent angestiegen sind.

In 2011 hat sich der bereits im Vorjahreszeitraum zu konstatierende Entwicklung fortgesetzt, wonach die rechtsextremen Personenzusammenschlüsse (Neonazikameradschaften) verstärkt dazu übergehen, ihre Strukturen nicht nach Außen zu kommunizieren. Offenbar scheint die gruppenspezifische Zuschreibung, gerade für die Binnenidentität innerhalb der Szene, nicht mehr eine solche Relevanz zu haben, wie noch in den Jahren zuvor. Der Trend geht also deutlich hin zu regionalen Strukturen, die organisatorisch nur lose aneinander gebunden sind, jedoch ein handlungsfähiges informelles Netzwerk bilden.


Chronik des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus

Nahezu verdoppelt haben sich die vom Mobilen Beratungsteams erfassten Ereignislagen in der gegenPart-Chronik (von 167 in 2010 auf 307 in 2011). Dieser signifikante Anstieg ist dabei insbesondere mit dem enormen Aufwuchs im Bereich der so genannten Propagandadelikte zu erklären, die von 100 Meldungen in 2010 auf 213 Treffer in 2011 kletterten.

Obwohl das Beratungsteam über ein Melde- und Recherchenetz in den Gebietskörperschaften verfügt, wurde der überwiegende Teil der Propagandadelikte den Antworten von „Kleinen Anfragen an die Landesregierung“ entnommen. Grundlage für diese Statistik des Innenministeriums sind dabei die Meldungen aus den einzelnen Polizeidienststellen.
Um ein Drittel sind indes die festgestellten Gewaltstraften angestiegen: 2010 wurden insgesamt 14 Gewaltstraftaten registriert, gegenüber 21 im aktuellen Berichtszeitraum (2011).


Rechtsextreme Schmiererei in Wittenberg (Foto: privat)

Die bekanntgewordene Fälle von Bedrohungen, Beleidigungen und Nötigungen sind von 17 Delikten im Jahr 2010 auf 29 im Jahr 2011 geklettert.  Zudem sind dem Beratungsteam im Bereich der juristischen Strafverfolgung 10 Prozesse und/oder Hauptverhandlungen zur Kenntnis gelangt (2010:17 ).

Die gegenPart-Chronik unterstreicht die Einschätzung der OBS. Mit fast 45 Prozent der verzeichneten Ereignislagen, Propagandadelikte und Gewalttaten in Anhalt-Bitterfeld, kann der Landkreis als eine operative Hochburg des organisiert verfassten und jugendkulturell geprägten Rechtsextremismus bezeichnet werden. Dies ist für die letzten Jahre ein Novum, führte doch bislang die kreisfreie Stadt Dessau-Roßlau dieses Ranking in der Region Anhalt immer an. 


Zusammengefasste Chronik vom ProjektGegenpart. Grundlage sind Meldungen der Polizei, der Medien und eigene Rechercheergebnisse.
Quelle/Graphik: MBT Anhalt


Statistik der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Gesamtjahr 2011

Im Jahr 2011 hat die Dessauer Beratungsstelle für Opfer rechter Straf- und Gewalttaten (OBS) insgesamt 25 politisch rechts motivierte Angriffe registriert. Gegenüber dem Vorjahr ist das eine Steigerung um 25 Prozent.


Quelle: OBS Dessau; Graphik: MBT Anhalt

Davon entfallen auf den Landkreis Anhalt-Bitterfeld 15 Angriffe. Gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung um 60 Prozent. Mit jeweils sieben Angriffen bilden die Bachstadt Köthen sowie die Doppelstadt Bitterfeld-Wolfen die Schwerpunkte politisch rechts motivierter Angriffe im Landkreis Anhalt-Bitterfeld. In der kreisfreien Stadt Dessau-Roßlau wurden 7 und im Landkreis Wittenberg 3 Angriffe registriert.


Quelle: OBS Dessau; Graphik: MBT Anhalt

Von den 25 festgestellten Angriffen sind 85 Prozent Körperverletzungsdelikte mit teilweise schwerwiegenden Folgen für die Geschädigten. Zwölf Angriffe waren rassistisch und einer homophob motiviert. Der Gruppe der nicht rechten Jugendlichen und junge Erwachsene konnten 12 Angriffe zugeordnet werden.


Quelle: OBS Dessau; Graphik: MBT Anhalt


Bilanz des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus

Das Mobile Beratungsteam (Projekt gegenPart) hat von Januar bis Dezmeber 2011 insgesamt 34 Verwaltungen, Vereine, Institutionen, Bildungseinrichtungen und Bürgerinitiativen bei der Bewältigung rechtsextremer Ereignislagen begleitend und unterstützt. Das ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum ein Aufwuchs um vier Beratungsprozesse (2010: 30). In der Analyse der Beratungsstatistik fällt auf, dass von den insgesamt 34 vom Mobilen Beratungsteam begleiteten Prozessen 15 (45 % des Fallgesamtaufkommens) in  Dessau-Roßlau zu verorten waren. Obwohl der Anteil der Doppelstadt am Gesamtaufkommen der Beratungsprozesse (2010: 60 %) damit sank, ist dennoch eine gewisse Diskrepanz zwischen den in der gegenPart-Chronik ausgewiesenen rechtsextremen Ereignislagen im Landkreis Anhalt-Bitterfeld und den tatsächlich akquirierten Beratungsprozessen in dieser Gebietskörperschaft auszumachen.

Die wichtigsten Beratungsanlässe waren Bedrohungsszenarien respektive Entwicklung von Strategien der Gefahrenabwehr (7), rechtsextreme Ereignislagen in Vereinen und Verbänden sowie rechte Demonstrationen und Kundgebungen (jeweils 5).



Quelle/Graphik: MBT Anhalt


Quelle/Graphik: MBT Anhalt

Die Auswertung der Beratungsprozesse zeigt, dass das MBT Anhalt im abgelaufenen Berichtszeitraum insgesamt 8 Vereine und Verbände beraten hat. Das solche Prozesse im Vergleich zum Vorjahreszeitraum nun den ersten Platz im Beratungsranking des MBT Anhalt einnehmen (2010: Platz 2) zeigt, dass in diesem Segment nach wie vor ein hoher Bedarf zu konstatieren ist. Auch die Bandbreite ist dabei bemerkenswert, reicht sie doch von Bildungsträgern, über Sportvereine bis hin zu kleinen Initiativen.

Die Verdopplung im Bereich Schule/Sport/Freizeit (von 3 in 2010 auf 6 in 2011) korreliert mit dieser Entwicklung. Hier beriet das MBT Anhalt fast ausnahmslos Bildungsträger aus der Berufsvorbereitung, die in ihrer Praxis zusehends mit rechtsextremen Maßnahmeteilnehmer_innen konfrontiert sind.

Auch wenn die Beratungsprozesse in kommunalen Behörden und Verwaltungen leicht rückläufig sind (von 8 in 2010 auf 6 in 2012) zeigt diese Kennziffer doch, dass die Angebote des Beratungsteams in diesem Sozialraum angenommen werden.

Bemerkenswert ist zudem der Aufwuchs im Bereich der Kommunalpolitik (von 3 auf 6 Fälle). Hier standen originär keine Prozesse im Mittelpunkt, die sich mit parlamentarischen Bestrebungen von Rechtsextremisten befassten. Vielmehr fragten die Kommunalpolitiker_innen in anderen Funktionen (Mitglied im Bürgerbündnis) oder auch aus anderen Anlässen (rechtsextremes Konzert) um Unterstützung an.

In jeweils 6 Fällen beriet das Team zudem anlassbezogen zivilgesellschaftliche Initiativen und Netzwerke. Die Prozesse in diesem Sozialraum sind damit quantitativ unverändert (2010: 6 Fälle).

In allen Prozessen zusammengenommen, hat das MBT Anhalt in persona insgesamt 72 HauptberatungsnehmerInnen- und KlientInnen beraten und unterstützt (2010: 102) . Dieser Rücklauf ist auch auf die gestiegene Qualifizierung und Spezialisierung der Klient_innen  zurückzuführen. Immer öfters hat es das MBT Anhalt mit Beratungssettings zu tun, in denen die Träger, Verbände und Institutionen bereits vor dem Erstkontakt mit dem Beratungsteam intern festlegen, wer Ansprechpartner_in im Prozess ist. Das gestaltet oftmals nicht nur Beratungswege- und Schrittfolgen effektiver, sondern sorgt auch für mehr Verbindlichkeit.



(1) – Mehrfachzuordnungen innerhalb eines komplexen Beratungsprozesses möglich.
Quelle/Graphik: MBT Anhalt


Rechtsextremismus-Monitor für die Region Anhalt

Rechtsextreme Personenzusammenschlüsse

In 2011 hat sich der bereits im Vorjahreszeitraum zu konstatierende Entwicklung fortgesetzt, wonach die rechtsextremen Personenzusammenschlüsse (Neonazikameradschaften) verstärkt dazu übergehen, ihre Strukturen nicht nach Außen zu kommunizieren. Einzige Ausnahme bildete dabei die Neonazikameradschaft „Freie Nationalisten Anhalt-Bitterfeld“, in der extrem rechte Akteure, vor allem aus Dessau-Roßlau und den Altkreisen Bitterfeld und Anhalt-Zerbst, aktiv sind. Dass heißt, dass  gerade bei rechtsextremen Ereignislagen im öffentlichen Raum (Kundgebungen, Demonstrationen etc.) nicht oder kaum noch mit konkreten Gruppenbezeichnungen agiert wird.


Neonazis aus Dessau, Bitterfeld und Wittenberg am 1. Mai 2011 in Halle (mehr dazu hier...).
FOTOS (2): Infothek Dessau


Das trifft auch auf Internetauftritte und die geographische Markierung auf rechtsextremen Propagandaträgern (Flugblätter, Sticks u. ä.) zu. Offenbar scheint die gruppenspezifische Zuschreibung, gerade für die Binnenidentität innerhalb der Szene, nicht mehr eine solche Relevanz zu haben, wie noch in den Jahren zuvor (mehr dazu hier...). Zwar ist in einem gewissen Maße noch das Bedürfnis nach territorialer Abgrenzung auszumachen, jedoch nicht mehr mit konkreten Bezeichnungen wie „Kameradschaft Landkreis Wittenberg“ oder „Freie Nationalisten Cöthen/Anhalt“.

Der Trend geht also deutlich hin zu regionalen Strukturen, die organisatorisch nur lose aneinander gebunden sind, jedoch ein handlungsfähiges informelles Netzwerk bilden.


Der Dessauer Neonazis Steffen M. als Fackelträger beim  rechtsextremen Aufmarsch am 10. März 2012 in Dessau .


Neonaziaktivist Per M. (am Kranz r.) an der Spitze des Aufmarsches in Dessau 2012.


Alexander Weinert (mit Fahne ganz rechts) aus Dessau-Roßlau fungiert u. a. als Anmelder von Demonstrationen und Kundgebungen.



Carola Holz (Bildmitte) aus Bitterfeld-Wolfen ist ehemalige NPD-Landesvorsitzende und Kreistagsmitglied in Anhalt-Bitterfeld. Der Neonazis Philipp S. aus Köthen (r.) wurde kürzlich wegen Körperverletzung verurteilt (mehr dazu hier...).


Thomas Lindemann (2 v. r.) ist NPD-Funktionär aus Wittenberg und gilt als personifiziertes Bindeglied zum Kameradschaftsspektrum.


Neonazis Henry B. (rotes Shirt) aus Wittenberg (vormals Gräfenhainichen) verfügt über Kontakte zur Rechtsrock-Szene im Land.
Foto: infothek-dessau.de


Die neonazistische NPD - Der Kreisverband Wittenberg

Der Kreisverband der extrem rechten Parteien trat zuletzt im Oktober 2011 mit einem Infostand im Rahmen des „NPD-Aktionstag gegen die europäische Gemeinschaftswährung“ öffentlich in Erscheinung (mehr dazu hier...). Auffällig war indes, dass am Rande dieser Veranstaltung Personen identifiziert werden konnten, die in den 1990iger Jahren der Neonazikameradschaft „Elbe- Ost“ zu zurechnen waren. Diese Gruppierungen hat vor mehr als zehn Jahren ihre Aktivität eingestellt. Bislang war nicht bekannt, dass dieser Personenkreis politisch noch aktiv ist und über Kontakte zur NPD verfügt.

Thomas Lindemann trat für die NPD als Direktkandidat für die Bundestagswahl am 27. September 2009 im Wahlkreis 71 (Dessau-Wittenberg) an. Der Aktivist, der enge Kontakte ins militante Neonazispektrum pflegt,  ist außerdem Schatzmeister des NPD-Kreisverbandes  und vertritt die Partei als Delegierter auf Landes- und Bundesebene.


Thomas Lindemann (l.) beim rechtsextreman Aufmarsch am 10. März 2012 in Dessau.

Die neonazistische NPD - Der Kreisverband Anhalt-Bitterfeld

Im April 2011 gründete die neonazistische NPD für den Landkreis Anhalt-Bitterfeld einen neuen Kreisverband gegründet. Zum Vorsitzenden wurde Andreas Klar gewählt, der ehemals der DVU angehörte. Als Schatzmeisterin wurde, Birgit Fechner eine ehemalige Landtagsabgeordnete der DVU aus Brandenburg, bestimmt. Beide hatten für die frisch mit der DVU fusionierte NPD zur Landtagswahl 2011 in Sachsen-Anhalt kandidiert.

Der Kreisverband entfaltet anders als der in Wittenberg, zusehends publizistische Aktivitäten. Vor allem im Januar 2012 äußerte sich die Parteigliederung im Internet zu den Protesten um die Messerattacke auf einen Jugendfußballtrainer in Dessau (mehr dazu hier...). Die entsprechende Texte waren dabei rassistisch aufgeladen und mit Elementen fremdenfeindlicher Zuschreibungen gespickt.

Zudem trat der Kreisverband in 2012 bereits mit einer Postwurfsendung an Dessauer Haushalte in Erscheinung.


Sreenshot der Internetseite des Kreisverbandes vom 13. März 2012.


Fazit & Ausblick

Die Anzahl der Angriffe und Ereignislagen in der Region bleibt weiterhin sehr hoch, ist in einigen Bereichen (Propagandadelikte) deutlich angestiegen. Rechtsextreme Personenzusammenschlüsse sind auf einer informellen Ebene in der Region eng vernetzt und damit vor allem auf einer aktionistischen Ebene ungebrochen handlungsfähig. Die Szene versuchte zudem, die Diskurse um die in weiten Teilen rassistisch aufgeladene Protestbewegung um eine Messerattacke in Dessau-Roßlau, aber auch die Geschehnisse um den umstrittenen Polizeieinsatz am 07. Januar 2012 (Oury Jalloh-Gedenkdemonstration), mitzubestimmen.

Nach Einschätzung des Mobilen Beratungsteams ist es der regionalen extremen Rechten, anders als beispielsweise im altmärkischen Insel, nicht gelungen, sich taktisch als normaler Bestandteil dieses Protestes zu generieren. Das instrumentale Verhältnis zu den Neonazis, das der vermeintlichen Bürgerprotestes in Insel pflegte und je nach Debattenlage strategisch einsetze, kam in Dessau so nicht zu Stande. Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass gerade die Doppelstadt Aktions- und Projektionsfläche für rechte Aktivisten bleibt.



Die Herausforderung für die demokratische Bürgergesellschaft besteht vor allem darin, ein präventiv angelegtes Frühwarn-system bei rechtsextremen Ereignislagen zu entwickeln und auszubauen. Während es in Dessau-Roßlau ein solches System, vor allem vermittelt über das Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE schon gibt, scheinen solche Strukturen in anderen Gebietskörperschaften dringend ausbaufähig.


 


Infos/Kontakt:

 

Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt