„Die kommen da nicht durch!“

500 Menschen zeigen Gesicht für Demokratie und Toleranz / bunter Protest gegen rechtsextreme Demo am 12. März 2011 in Dessau-Roßlau / friedliche Blockade von Nazigegnern verhindert Marsch durchs Stadtzentrum

Wie jedes Jahr einmal im März, herrscht auch an jenem lauen Frühlingstag Ausnahmezustand in Dessau-Roßlau, der drittgrößten Stadt in Sachsen-Anhalt. Ein unübersehbares Polizeiaufgebot und gesperrte Straßen sorgen dafür, dass Bus- und Bahnlinien nicht fahren. Einzelhändler hatten bereits im Vorfeld prophylaktisch über zu erwartende Umsatzeinbußen geklagt. Zu der ohnehin ungewöhnlichen Situation, kommen mittags noch die ersten Meldungen über ein explodierendes Atomkraftwerk in Japan hinzu. Der Grund für dieses Szenario: Ein so genannter Trauermarsch von Neonazis aus dem Kameradschaftsspektrum. Die rechtsextreme Szene instrumentalisiert alljährlich die Bombardierung der Stadt am 07. März 1945 durch alliierte Truppen  dazu, um die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands zu verharmlosen und damit die Erinnerung an die NS-Opfer zu verhöhnen (mehr dazu hier...).


Ein massives Polizeiaufgebot begleitet die Demonstrationen und Kundgebungen.

Wirkungsmächtig gelingt das den Neonazis  aus Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Brandenburg am 12. März 2011 nicht ansatzweise. Mit nur noch 150 Teilnehmern scheint der Dessauer Aufmarsch in der Szene zudem immer weniger attraktiv zu sein. Das liegt mit Sicherheit auch am starken demokratischen Gegenwind, der den Rechtsextremen, wie bereits im vergangenen Jahr, auch diesmal wieder um die Ohren weht (mehr dazu hier...).Viele hundert Menschen sind dem Aufruf des Netzwerkes GELEBTE DEMOKRATIE (mehr dazu hier...) gefolgt, und haben an ganz unterschiedlichen Orten und mit vielfältigen und kreativen Aktionen ihren Protest zum Ausdruck gebracht. Das Kreativitätspotential materialisiert sich u. a. in den singenden und tanzenden Teletubbies, in einer musikalischen Wagner-Attacke und in einem Posaunenchor.  Nach nur wenigen hundert Metern stockt der Naziaufmarsch für ganze 90 Minuten. Mitglieder demokratischer Parteien, Stadträte und alternative Jugendliche stoppen den braunen Aufzug immer wieder durch friedliche Sitzblockaden. Schließlich können die Rechtsextremisten nicht durch Dessaus Fußgängerzone marschieren.

 

Aber zurück zum Anfang.  Als sich gegen 12.35 Uhr der Bühnenvorplatz zur zentralen Kundgebung „GELEBTE DEMOKRATIE STATT BRAUNER UNGEIST“ an der Dessauer Friedensglocke so langsam füllt, kommt über Twitter die erste Meldung zur Situation am Hauptbahnhof herein. Dort stehen 150 Nazigegner gerade einmal 30 Rechtsextremisten gegenüber. Diese nummerische Überlegenheit sollte sich im Laufe des Tages zwar noch ein wenig abschwächen, aber am Ende stimmten auf den Straßen fast viermal so viele Bürger und Bürgerinnen mit ihren Füßen für Vielfalt und Toleranz ab,  als Neonazis in der Stadt auf den Beinen waren. Und die ewig gestrigen Geschichtsklitterer werden an ihrem Treffpunkt am Bahnhof mit einem bunten, demokratischen und semikünstlerischen Schüttelmix gebührend empfangen. Da geben Junge Männer in Teletubbie-Kostümen und bewaffnet mit Trillerpfeifen und Faschingsnasen an die Damen und Herren Neonazis wohl nicht nur ironisch gemeinte Ratschläge: „Mit Bildung wär das nicht passiert!“ Innenminister Holger Hövelmann (SPD) zeigt sich mit den Demonstranten solidarisch und von einem spontan angebrachten Transparent an der Bahnhofsbrücke prangt in großen Lettern: „Wir gegen Nazis“.

 
Innenminister Hövelmann (Bildmitte) kommt zusammen mit Demonstranten an der Friedensglocke an
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Zahlreiche Verbände, Initiativen und soziale Träger beteiligten sich aktiv an den Protesten.


Das Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE (mehr dazu hier...) hatte zu den Protesten aufgerufen.

Und kurz bevor das Bühnenprogramm an der Friedensglocke startet, macht eine weitere Nachricht die Runde. Mutmaßliche Rechtsextremisten hatten in der Nacht auf zahlreichen Grünflächen in der Stadt illegal weiße Holzkreuze angebracht. Auch in unmittelbarer Nähe  einer Gedenkstele, die an der Zerstörung der Dessauer Synagoge und die Deportation jüdischer Mitbürger in die deutschen Vernichtungslager erinnert (mehr dazu hier...).

Der Redebeitrag des Oberbürgermeisters Klemens Koschig, der dann folgen sollte, geht in weiten Passagen direkt auf die historische Verantwortung ein.  Doch zunächst findet das Stadtoberhaupt aufmunternde Worte: „Ich freue mich, dass Sie hier heute alle Flagge zeigen“, sagt er und meint damit die Dessauer und Dessauerinnen, aber auch explizit die politische Landesprominenz. Für Koschig ist vor allem die Anwesenheit von gleich zwei Kabinettsmitgliedern, Wirtschaftsminister Reiner Haseloff (CDU) und Innenminister Holger Hövelmann (SPD) mehr als eine Geste in der heißen Phase des Wahlkampfes: „Das ist ein sehr starkes Zeichen, dass die Landesregierung zu 100% unseren Protest gegen die Nazis mitträgt.“  Schaue man sich die Geschichte Dessaus an, sei ein Bekenntnis gegen den aktuellen braunen Ungeist umso wichtiger. Koschig zitiert aus dem „Buch der verbrannten Bücher“ des Autors Volker Weidermann und verbindet dies mit einem Appell zur Wachsamkeit: „Erst brannten Bücher, dann Menschen und zuletzt das ganze Land.“ Genau in diesen Kontext sei am Ende die Zerstörung der Stadt am 07. März 1945 einzuordnen. Er erinnert zudem an einen unumstößliches Kapitel in Dessaus Historie: „Hier in Anhalt hat sich zuerst eine nationalsozialistische Regierung etabliert und das auf demokratischen Wege. Das war ein einziges Unheil für diese Stadt.“ Der Oberbürgermeister geht auf die bevorstehenden Landtagswahlen ein und verbindet damit vor allem einen Aufruf: „Wir müssen verhindern, dass die NPD in den Landtag einzieht.“ Die Reaktion: zustimmendes Nicken wo man auch hinschaut. Zum Schluss dankt er dem Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE und allen engagierten ProtestlerInnen.


Oberbürgermeister Klemens Koschig erinnert an die historische Verantwortung der Stadt.


CDU-Spitzenkandidat Reiner Haseloff auf der zentralen Protestkundgebung an der Dessauer Friedensglocke.


Hunderte Menschen beteiligen sich am demokratischen Protest.

Von den Neonazis, die eigentlich in nur 50 Metern Entfernung und an der demokratischen Protestkundgebung vorbeimarschieren sollen, ist indes weit und breit nichts zu sehen. Warum dass so ist, löst der Bühnenmoderator Ralf Schüler wenig später auf: „Die kommen einfach nicht durch!“ Friedliche Blockaden in der Zerbster Straße verhindert eine Weitermarschieren der Rechten. Für die meisten Menschen an der Friedensglocke offenbar eine Aufforderung – ob aus Neugier oder dem Wille zum aktiven Tun – zu den nur 250 Meter entfernten Sitzblockaden zu gelangen. Für viele endet dieser Versuch gleich in Höhe des Rathauses, dort hat die Polizei massiv abgesperrt. Die Nazis stecken derweil in der Ferdinand-von-Schill-Straße fest und werden zusätzlich vom Posaunenchor der evangelischen Gemeinden mit Chorälen bedacht und von der Katholischen Kirche mit Wagner beschallt. Die Polizei hält sich bei der Auflösung der bürgerlichen Blockaden augenscheinlich zurück, löst erst bei der dritten Aufforderung und ohne körperlichen Zwang auf. Ruppiger und unverhältnismäßig, so einige Beobachter und selbst Angestellte der Stadtverwaltung, wird  gegen die Sitzblockaden von alternativen Jugendlichen vorgegangen. Die Einsatzleitung verändert auf Grund der Blockaden schließlich die rechte Aufmarschroute, die nun nicht mehr am Rathaus entlang - und damit über den innerstädtischen Boulevard - führt.


Friedliche Sitzblockade in der Zerbster Straße verhindert den Aufmarsch der Neonazis durch die Füßgangerzone.


Demokratischer Protest vor den Absperrgittern am Rathaus.


Von der Protesbühne sind derweil jugendlich-dynamische Töne zu hören. Die Band „Dessaus Subs“ ist ein Gemeinschaftsprojekt von SchülerInnen aus dem  Phlianttropinum und dem Liboriusgymnasium. Dem Quintett aus vier Musikern und der Frontfrau Christiane merkt man an, dass sie ihre Instrumente nicht erst seit gestern bearbeiten. In dieser Formation , unter dem Label „Dessau Subs“, treten sie allerding das erste Mail öffentlich auf. „Und dann noch zu einem solchen demokratischen Anlass“, ermutigt Ralf Schüler zum Applaus. Der kommt auch brav, sogar gemischt mit einigen „Zugabe“-Rufen.

Von den 150 Rechtsextremisten ist da immer noch nichts zu sehen, ist doch gerade die erste demokratische Sitzblockade aufgelöst.


Frontfrau Christiane von den „Dessau Subs“ rockt die Protestbühne.



Apropos Neonazis: Nachdem sich die etwa 150 Anhänger der sogenannten "Freien Kräfte" rund anderthalb Stunden die Beine in den Bauch gestanden hatten, zog der Aufzug auf einer veränderten Route dann doch weiter in Richtung Dessaus Süden. Den ersten Redebeitrag ihrer Demonstration hatten die Neonazis zu diesem Zeitpunkt bereits hinter sich gebracht, ein Redner hatte den Wartenden eine schier unendliche Aneinanderreihung von Zahlen aufgesagt. Diese sollten wohl das deutsche Leid (an diesem Tag besondere das der Dessauer) beklagen, welches angeblich ohne ersichtlichen Grund über die Deutschen herein gebrochen sei. An der weiteren Strecke zeigten immer wieder zahlreiche Gegendemonstranten, dass diese revisionistische Propaganda nicht unwidersprochen bleiben darf. Eine weitere Kundgebung, inklusive einer improvisierten Kranzniederlegung, wurde dann am Friedhof III abgehalten. In zwei weiteren Redebeiträgen, darunter einer von der Neonaziaktivistin Ricarda Riefling, wurden in der üblichen Manier deutsche Kriegsschuld geleugnet und den Alliierten Kriegsverbrechen vorgeworfen. Zum vermeintlichen Höhepunkt ihres "Trauermarsches"  zündeten die Neonazis noch einige Fackeln an und hielten eine Schweigeminute ab. Anschließend setzten sich der Aufmarsch, rund um die beiden Organisatoren Carola Holz und Alexander W.,  wieder in Bewegung und wurde gegen 17.30 Uhr am Bahnhof-Süd aufgelöst.


Die  beiden Organisatoren beim Plausch: Die NPD-Kreistagsabgeordnete und ehemalige NPD-Landesvorsitzende Carola Holz (mehr dazu hier...)  und
Kameradschaftsaktivist Alexander W. (mehr dazu hier...).


Zwischenkundgebung am Friedhof III - natürlich mit Fackeln
    

Für das Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE ist nach dem 12. März 2011 bereits vor dem 12. März 2012. Bereits am Rande des Protestes wurden die Terminkalender gezückt, steht doch zeitnah die Nachbereitung ins Haus. Die fällt in diesem Jahr bestimmt überwiegend positiv aus. Den immerhin ging an diesem Tag ein deutliches Zeichen von der demokratischen Stadtgesellschaft aus: Wir überlassen den Nazis nicht die öffentlichen Plätze.



verantwortlich für den Artikel:

 

Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt