„Es waren Mitbürger aus unserer Mitte, die Juden ermordeten.“

kreatives, kluges und lebensfrohes Bekenntnis für Demokratie und Toleranz//600 Menschen demonstrierten am 07. März 2009 in Dessau-Roßlau gegen einen Naziaufmarsch

Ist Dessau-Roßlau doch umtriebiger und weltoffener, als es der oftmals negativ besetzte Ruf der Doppelstadt an Elbe und Mulde vermuten lässt? Rückblickend auf den 07. März 2009 kann die Antwort nur lauten: Ja! Immer hin 600 Menschen haben unter dem Motto „Vielfalt ist Bunt“ mit witzigen Aktionen und jeder Menge Kultur gegen einen Aufmarsch von 250 Nazis demonstriert. Der olle Leopold, seines Zeichens Fürst zu Anhalt, unterstützte den Protest passiv, indem er für den braunen Spuk auf dem Schlossplatz keinen Blick übrig hatte. Kehrmaschinen, Besen, Mülltonnen, Clownsmasken, Konfetti und Toilettenreinigungsutensilien hatten Hochkonjunktur und selbst die extra eingeflogenen Teletubbies, punkteten mit ihren unbeholfenen Artikulationsversuchen zweifellos mehr, als die rechtsextremen Menschenfeinde mit ihrer infantilen Logik. Zu den breitgetragenen demokratischen Protestformen, hatten neben der Kommune, zahlreiche Initiativen und Vereine, Parteien und Religionsgemeinschaften aufgerufen (gegenPart berichtete). Oberbürgermeister Klemens Koschig, der sich übrigens vorzeitig an die Spitze der Bewegung setzte und damit für ein Novum in der jüngeren Stadtgeschichte sorgte, wertete den Tag dann auch als Teilerfolg wenn es darum ging, das Engagement für eine demokratische Alltagskultur zu verstetigen.


ein starkes Polizeiaufgebot begleitete der Naziaufmarsch und den demokratischen Protest

Kontrastreicher hätte sich die Bauhausstadt im Grünen , wie Dessau-Roßlau sich in touristischen Hochglanzbroschüren gern selbst darstellt, am 07. März 2009 wohl kaum zeigen können. Während das renommierte und international anerkannte Kurt-Weill-Fest der Stadt zumindest für ein paar Tage den Hauch eines weltmännischen Lebensgefühls verleiht, erwartet den geneigten Besucher bereits am Bahnhof ein ganz anderes Szenario. Dutzende Polizeifahrzeuge stehen dort nebeneinander gereiht. Beamte aus dem gesamten Bundesland und dem benachbarten Sachsen kontrollieren schwarz gekleidete junge Männer, die Fahnen mit Trauerflor mit sich führen. Mehrere Hundert PolizistInnen sind im Einsatz, um das Versammlungsrecht für insgesamt 250 Nazis aus der Region Anhalt und angereisten Rechtsextremen aus Niedersachsen durchzusetzen.



Anlass dieses tiefbraunen Spektakels ist der Jahrestag der Bombardierung der Stadt. Die Verfechter für einen neuen „Nationalen Sozialismus“, die sonst ihr Programm für Mord und Totschlag lauthals verkünden, Juden für alles Übel in dieser Welt verantwortlich machen oder Kranke totprügeln (mehr dazu hier...) , geben sich heute ganz bieder: Keine aggressiven Rechtsrock-Klänge, keine geifernden Reden und ein striktes Alkoholverbot. Stattdessen klassische Musik und disziplinierte Reihenbildung auf dem „Trauermarsch“, wie die extrem rechten Aktivisten ihre Demo bezeichnen. Doch trotz dieser etwas anderen Verpackung, bleibt der rechtsextreme Inhalt der gleiche. Seit Jahren kommt dem braunen Gedenken an die deutschen Opfer des 2. Weltkrieges in der Szene eine immer größere Bedeutung zu. Diese Aufmärsche, auf denen die Verbrechen des Nationalsozialismus geleugnet und damit die NS-Opfer nachträglich verhöhnt werden, sind zum wichtigsten konstituierenden Moment des organisierten Rechtsextremismus in der Bundesrepublik geworden. Das ist am 07. März 2009 in Dessau-Roßlau nicht anders. Minutiös schildern die Nationalen Sozialisten von heute die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung in Dessau. Eine Geschichtsanalyse, die den Namen auch verdient und beispielsweise Ursache und Wirkung näher beleuchtet, hat man von den Nazis indes nicht zu erwarten. Es ist nicht etwas Geschichtsvergessenheit sondern extrem rechtes Politikkalkül, wenn mit keiner Silbe erwähnt wird, dass Dessau ein Zentrum der NS-Rüstung war und in der Stadt zudem das Giftgas Zyklon B produziert wurde, mit dem die Nationalsozialisten Millionen Menschen ermordeten.


zahlreiche Menschen fanden sich zum demokratischen Protest an der Friedensglocke ein






Nur gut dass sich in Dessau-Roßlau insgesamt 600 Menschen fanden, um dem Geschichtsrevisionismus von Rechts laut und unmissverständlich zu widersprechen und dabei von Petrus tatkräftig unterstützt wurden. Die Sonne schien, da genügte ein oberflächlicher Blick in den wolkenverhangenen Himmel, für die Nazis jedenfalls nicht.

„Eine Mülltonne ist schon da“, sagt Joachim Landgraf und wenig später fügt er hinzu: „Für die mechanische Reinigung der Straße ist gesorgt.“ Der Verwaltungsdirektor des Anhaltischen Theaters, der die zentrale Protestkundgebung an der Friedensglocke moderiert, spielt damit auf die Kehraus-Aktion an, in der der braune Ungeist symbolisch aus der Stadt gefegt werden soll. Doch dazu später mehr. Schon bevor der bunte Schüttelmix auf der Bühne am Rathaus so richtig beginnt, schallen aus den Boxen Klänge, die sowohl für die kosmopolitischen Traditionen der Stadt, aber auch für den von der Dessauer Bevölkerung mitgetragenen Naziterror stehen: Kurt Weill is on Air. Der weltberühmte Komponist, der u.a. die Dreigroschen-Oper vertonte, wurde von den Nazis aus Dessau vertrieben und emigrierte schließlich in die USA.


führte durch das Programm: Joachim Landgraf

Und während die Rechtsextremisten sich noch am Hauptbahnhof sammeln, steppt im Stadtzentrum schon der bunte Bär und die Leute bringen sich in Proteststimmung. Manche AkteurInnen nutzen dabei die Gelegenheit, um ihre ideologiebehaftete Propaganda unter die Leute zu bringen und sich selbst zu zeigen, wie toll man ist. So zum Beispiel der Gau Anhalt der Front Deutscher Äpfel (FDÄ), die auf seiner Weltnetzseite u.a. eine Weltnetzverweisstandarte anbietet und ihr politisches Programm kurz aber präzise erläutert: „Nationale Initiative gegen die Überfremdung des Deutschen Obstbestandes und gegen faul herumlungerndes Fallobst.“ Das die jungen Frauen und Männern mit ihren schwarz-weiß-roten Armbinden und Winkelementen sich durchaus auf der richtigen Veranstaltung befinden, entgeht dem protestgeschulten Auge nicht. Anderen Kundgebungsteilnehmern den die Verwirrung ins Gesicht gemeißelt scheint, muss erst noch erklärt werden: Achtung, Satire!


machte lautstark auf sich aufmerksam: Die Front Deutscher Äpfel





Einen etwas anderen, wenn auch nicht weniger innovativen Zugang, bevorzugen die angereisten Damen und Herren der Antifa. Sie suchen die provokante Auseinandersetzung mit dem Anlass des Naziaufmarsches und haben sich vor allem auf den deutschen Opfermythos der extremen Rechten eingeschossen. Für sie ist die militärischer Zerschlagung des Nationalsozialismus ein Grund zum Jubeln und zum Feiern. Deshalb dominieren in diesem Block einmal nicht Sonnenbrillen, Punkmusik und finstere Mienen, sondern lächelnde Gesichter, Luftschlagen, Konfetti und bunte Faschingshüte.


Konfetti kam kiloweise zum Einsatz


DemonstratInnen brachten ihre Solidarität mit dem Staat der Holocaustüberlebenden zum Ausdruck



Zudem nutzen zahlreiche demokratische Parteien unter dem wachsamen Blick der Johanniter und regionaler Medien die Infostandmeile dazu, sich zu präsentieren. Die Stände machen auch das nicht immer sichtbare und im gebührenden Maße gewürdigte Handeln für Demokratie und Toleranz in der Stadt sichtbar. Selbst informierte BeobachterInnen, sind ob der Fülle von zivilgesellschaftlichen Vereinen und Initiativen die sich vor Ort engagieren, überrascht. Der Stand des Lokalen Aktionsplanes (LAP), der bisher über 40 Projekte gefördert und unterstützt hat (mehr dazu hier...), punktet vor allem mit der kostenlosen Bereitstellung von bunten Süßigkeiten, die zudem noch perfekt mit dem LAP-Logo korrespondieren.




Die Linke sprach sich klar gegen Rechtsextremismus aus...


...die hiesigen SozialdemokratInnen standen dieser Forderung in nichts nach


am LAP-Stand liefen bunte Naschereien besonders gut



Von der Deutschen Angestellten Akademie erfährt man, dass es in der Stadt nun eine Servicestelle gibt, die die europaweite Kampagne „Schule ohne Rassismus“ verankert möchte (mehr dazu hier...). Das Bündnis gegen Rechtsextremismus wirbt für eine neuerliche NPD-Verbotsinitiative (mehr dazu hier...) und das Multikulturelle Zentrum (mehr dazu hier...) stellt seine Projekte zur Schärfung interkultureller Kompetenzen ebenso vor, wie die Stiftung Evangelische Jugendhilfe (mehr dazu hier...).




Infostand des Multikulturellen Zentrums


innovativer Präsentation der Stiftung Evangelische Jugendhilfe

Auf den Auslagen des Kulturellen Informations- und EinwohnerInnenzentrums (K.I.E.Z. e.V.) berichtet die „Werkstatt Gedenkkultur“ nicht ohne Stolz, dass auch in diesem Jahr Stolpersteine verlegt werden sollen (mehr dazu hier...) und das Alternative Jugendzentrum (AJZ) nutze die Gelegenheit, um auf die Ausstellung “Die Kunst der Erinnerung“ in der Marienkirche hinzuweisen, die Werke des Holocaustüberlebenden Samuel Willenberg zeigt (mehr dazu hier...).





Wieder andere haben mit viel Liebe zum Detail bewiesen, dass mit ein wenig Kreativität und künstlerischen Vermögen unansehnliche Bettlacken mit geistreichen und formschön gestalteten Botschaften versehen werden können. Schließlich zeigte bereits eine oberflächliche Analyse der Bekleidungspräferenzen überdeutlich, dass hier nicht nur „Bunte Vielfalt“ auf der Verpackung stand, sondern tatsächlich eine heterogene Ansammlung von Lebenseinstellungen, Weltanschauungen und Lifestyle-Konzepten den Protest ausmachte. Es kommt in der provinziellen Enge der Doppelstadt für wahr nicht oft vor, dass der anzugtragende Banker zusammen mit der Dark-Wave-Fraktion und der bürgerliche Kommunalpolitiker gemeinsam mit der teekochenden Ökoaktivistin gesehen wird. Schon gar nicht, um auf Augenhöhe gegen demokratiefeindliche Bestrebungen Gesicht zu zeigen. Dieser Moment atmete tatsächlich so etwas wie Weltoffenheit und gelebten Liberalismus.








Amnesty International zeigt genau so Flagge...


..wie das Dessauer Rathaus


unkonventionelle Anzugsordnung, aber dennoch voll bei der Sache


auch die Freunde der Nacht trauen sich auf die Straße


eine komplette Stickgalerie auf der Jacke



Wohl auch deshalb bedankte sich Oberbürgermeister Klemens Koschig zunächst bei allen, die den Weg zur Friedensglocke gefunden hatten: „Gern würde ich jedem einzelnen die Hand geben.“ Doch trotz des augenscheinlichen Mobilisierungserfolges, vor allem wenn man die Teilnehmerzahlen mit anderen Protestveranstaltungen in der Vergangenheit vergleicht, findet Koschig auch kritische Worte: „Vor diesem Hintergrund bedaure ich, dass wir heute nicht noch mehr sind.“ Das Engagement für Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit könne schließlich nicht verordnet werden, hier komme es auf Zivilcourage und ein klaren Bekenntnis an. „Die Nichtteilnahme ist dann auch ein Bekenntnis“, hebt das Stadtoberhaupt auf ein Zitat des Kirchenpräsidenten Joachim Liebig ab (mehr dazu hier...). „Vielfalt ist Bunt lautet unser Motto – und das ist alles andere als langweilig.“, sagt Koschig weiter und erinnert daran, dass eine solche Lebensphilosophie gerade in der Region nicht immer selbstverständlich gewesen sei. Denn immerhin hätte in Anhalt bereits 1932 eine gewählte NSDAP-Regierung die Geschicke des Landes bestimmt: „Es wird auch schon damals Bürger gegeben haben, die nicht hinschauen wollten. Wer damals nicht zur Wahl ging, wusste um die Konsequenzen. Danach half Weggucken schon nicht mehr.“






auch die Vierbeiner sind mit viel Engagement dabei

Viele Zeitzeugen aus der Weltkriegsgenerationen, würden sich heute noch mit „Schrecken an die Bombennacht des 07. März 1945“ erinnern. Koschig weist daraufhin, dass die Angriffe letztlich die Folge des nationalsozialistischen Vernichtungsfeldzuges gewesen wären: „Die Totem mahnen uns.“ Dieser Schwur der Überlebenden des Konzentrationslagers Buchenwald laufe Gefahr, „zusehends im Universum der Geschichte zu verhallen“. Deshalb sei es so wichtig, den rechtsextremen Verfälschern der Geschichte entschieden entgegenzutreten. Für ihn ist es in diesem Zusammenhang unverständlich, wie ein Bischof der katholischen Kirche sich in die Phalanx der Holocaustleugner einreihen könne. Oftmals höre man in Gesprächen, nicht nur mit ausgewiesenen Nazis wie sich Koschig sicher ist, die Meinung, dass im Dritten Reich doch nicht alles schlecht gewesen sei. „Diese kleine Dosis des Giftes“, wie der Oberbürgermeister eine solche geschichtsvergessene Haltung bezeichnet, sei der Anfang von einem Menschenbild, an dessen Ende eine nationalistische, chauvinistische und rassistische Diktatur stehe. „Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen“, zitiert Koschig den Philosophen und Schriftsteller Georg Santayna.


gute Stimmung an der Bühne



Der 07. März 1945 in Dessau sei untrennbar mit der Wahl der Anhaltischen Naziregierung am 21. Mai 1932 und der Pogromnacht am 09. November 1938 verbunden: „Es waren Mitbürger aus unserer Mitte, die Juden ermordeten.“ Auch in Dessau wäre die Begeisterung für den NS-Terror riesig gewesen: „Unvorstellbar groß war der Jubel, als ab 04.00 Uhr zurückgeschossen wurde.“
Die Stadt trage noch heute die Wunden, die aus der Bombardierung erwuchsen. Doch aus dies, so der Oberbürgermeister, wollten die Rechtsextremen die nun marschieren nicht wahrhaben.



„Dessau ist seit 1989 eine weltoffene und tolerante Stadt.“, ist sich Koschig indes sicher. Schließlich würden im städtischen Klinikum allein ausländische Mitarbeiter tätig sein und im Ensemble des Anhaltischen Theaters seien 18 Nationen vertreten.

Abschließend fordert er ein klares Bekenntnis ein und verbindet dies mit dem Aufruf, sich aktiv an demokratischen Gestaltungs- und Aushandlungsprozessen zu beteiligen: „Lassen wir nicht zu, dass unsere Kinder in die Fänge der Neonazis geraten. Mischen Sie sich ein, gehen Sie zur Wahl und zeigen Sie Courage in aller Vielfalt.“


Oberbürgermeister Koschig fordert Zivilcourage ein

Klemens Koschig hat seine Rede auf der Bühne noch nicht beendet, da ertönt ein gellendes Pfeifkonzert und ohrenbetäubende „Buh-Rufe“. Die Rechtsextremen sind abgeschirmt von der Polizei auf dem Schlossplatz eingetroffen. Dort, nur 100 Meter vom Rathaus entfernt, sorgen Absperrgitter dafür, dass die Nazis zunächst unter sich bleiben. Viele DemonstrantInnen lassen es sich jedoch nicht nehmen, von der Friedensglocke herüber zukommen und den brauen Aufmarsch demokratisch zu umstellen. Was nun folgt, wird wohl als peinliche Blamage in die Demo-Analen der extrem rechten Szene eingehen. Schon bei der Ankunft haben besonders pfiffige Zeitgenossen dafür gesorgt, dass die Rechten lautstark mit einer „Never Ending Polka“ empfangen werden. Die Boxen zu dieser subversiven Tat sind in der Marienkirche postiert und sorgen dafür, dass die braunen Kundgebungsteilnehmer lange Zeit ihr eigenes Wort nicht verstehen. Auch das die Musik später auf Drängen der Polizei abgestellt werden muss, tut der guten Stimmung keinen Abbruch. Um so besser, sind nun die von ProtestlerInnen verursachten Trommelwirbel, „Ihr habt den Krieg verloren!“-Sprechchöre und andere lauthalse Unmutsbekunden umso deutliche zu vernehmen.


der olle Leopold mag dem braunen Treiben nicht zuschauen


Hatten von den bunten Vorschulhelden nichts zu befürchten: Die Deeskalationsteams der Polizei

Ein ganz großen Auftritt, der selbst dem einen oder der anderen PolizeibeamtIn ein verschmitztes Lächeln ins Gesicht zaubert, haben dann die Teletubbies. Tinky Winky, Dipsy, Laa Laa und Po stolpern wild springend und gestikulierend auf den Platz und haben für die Nazis einen Merkspruch dabei, der in seiner Deutlichkeit keine Wünsche offen lässt: „Mit Bildung wer das nicht passiert!“ Ein paar Mutige haben sich zudem Clownsmasken übergestreift und sorgen von benachbarten Dächern für eine weitere humoristische Einlage.







Wohl um die Lokalgeschichte vor Umarmungsversuchen von Rechts zu beschützen, haben bislang unbekannte Witzbolde dem alten Fürsten Leopold, die über den Schlossplatz wacht, die Augen verbunden. Eine präventive Maßnahme mit Weitblick, muss man doch kein ausgebildeter Psychologe sein um zu erkennen, dass das selbst für eine 332 Jahre alte Aristokratenseele zu viel ist. Und komische Menschen mit leuchtenden Warnwesten staken auf dem Platz umher und ziehen eine grüne Tonnen durch die Gegend, aus der oben Springerstiefel rausschauen. Zu welcher Putztruppe diese Aktionskünstlern nun wieder gehören, sollte sich im Laufe des Tages noch aufklären.


Achtung, Satire!!!





Ein witzige, kluge und lebensfrohe Protestkultur, die überraschte aber angesichts der demagogischen und demaskierenden Hasstiraden der Rechtsextremen auch bitter nötig erschien. Ein sichtlich aufgebrachter Bürger diktiert dann auch in den Schreibblock: „Das ist ungeheuerlich“ und spielt damit auf eine Geste eines Neonazis an, der in Richtung der Demonstranten 6 Finger in die Höhe streckt. Sechs Finger, die für ihn nur bedeuten können, dass der Neonazis damit die sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden verhöhnen will.



Der Hildesheimer Neonaziaktivist Dieter Riefling, der auf dem „Trauermarsch“ in Dessau-Roßlau als Hauptredner in Erscheinung trat (mehr dazu hier...), machte aus seinem braunen Herzen dann auch keine Mördergrube: „Das deutsche Volk kämpfte im ersten Weltkrieg 1914 bis 1918 genauso wie im zweiten Weltkrieg 1939 bis 1945 einzig und allein um seine Freiheit und seine Selbstbestimmung.“ Demokratie und Freiheit nennt Riefling die „Umerziehung“ und „Verdummung eines ganzen Volkes“. Außerdem verunglimpfte er den demokratischen Protest auf das übelste: „Welche Früchte diese Verdummung getragen hat, dass sehen wir hinter den Absperrungen der Polizei, wo die volksverdummten Volksgenossinnen und Volksgenossen stehen.“ Mit erschreckender Offenheit verbreitet er zudem seine Standpunkte, die stark an das propagandistischen NS-Vokabular eines Joseph Goebbels erinnerten: „Zwei Kriege haben uns nicht kaputt gekriegt und sie werden uns auch mit diesem dritten Krieg, den sie momentan gegen uns führen, nicht kaputt bekommen. Die deutsche Jugend, das Blut was in unseren Adern fließt, von Hermann dem Cherusker bis hin zum Frontsoldaten des zweiten Weltkrieges, fließt heute auch in jedem einzelnen von Euch. Zeigt euch dieses Blutes würdig, dass auf so vielen Schlachtfeldern Europas und darüber hinaus vergossen worden ist.“


die Putztruppe der etwas anderen Art bei einer wohlverdienten Verschnaufpause

Zurück auf die Bühne an der Friedensglocke. Dort ist dass Programm derweil genau so bunt, wie der lautstarke Protest am Schlossplatz vielfältig ist. Das Blechbläserensemble des Anhaltischen Theaters hat schon beizeiten die Instrumente warm gespielt und entlockt den Arbeitsgeräten, Kurt Weill darf heute freilich nicht fehlen, etliche Stücke. Eine afrikanische Combo trommelt nicht nur, sondern weis zudem eine Klarinette musikalisch gekonnt in das Gesamtarrangement einzubauen. Kids der Tanzgruppe „Schaut hin“ und eine Truppe des jüdischen Kulturvereines haben gleich eine Herrscharr von Eltern mitgebracht. Nicht nur die sind von der Choreographie begeistert. Richtige Mitschunkelstimmung stellt sich ein, als russische Folklore den Platz zwischen Einkaufscenter und Rathaus beschallt.


afrikanischen beats rocken den Platz




..die Tanzgruppe "Schaut Hin!"


... und ihre Kolleginnen vom jüdischen Kulturverein


russiche Folklore...


...sorgte für rhytmische Mitklatscheinlagen

Zu einem Arbeitseinsatz ganz anderer Art, wird danach gebeten. Es werden 50 Besen, zum Teil gesponsert von einem hiesigen Baumarkt, verteilt. Andere sind auf eine solche städtische Materialzuteilung erst gar nicht angewiesen, haben sie doch ihre Reinigungsuntensilien gleich von zu Hause mitgebracht. Von der Klobürste bis zur halbautomatischen Kehrmaschine für den Gartenfreund wird die ganze Angebotspalette in Stellung gebracht, um die pathologische Putzneurose endlich einmal im großem Rahmen ausleben zu dürfen. Die Kolonne, die dem Stadtbetrieb heute jede Menge Arbeit abnimmt, setzt sich kollektiv in Bewegung, um die Straßen symbolisch vom braunen Ungeist zu reinigen. Wurden bei der KEHRAUS-Aktion auch einige Koordinierungsmängel sichtbar, hatte die Beteiligten auf jeden Fall eine Menge Spaß. Das eine Kehrmaschine und ein vom Bündnis gegen Rechtsextremismus getragenes Transparent den rechten Aufzug bereits vom Bahnhof aus begleitete, dürfte bei den Nazis für einen weiteren Unwohlfaktor gesorgt haben.


zuerst wurden die Besen verteilt...


...sich daran festgehalten


... um schließlich richtig loszulegen




die grüne Tonne wurde nicht vergessen







Einige Unmutsäußerungen wurden indes am Rande der Veranstaltung an der Friedensglocke dennoch laut. Diese Manöverkritik schloss zum Beispiel die Gedenkminute für den 07. März 2009 einschloss, die von der versammelten Bürgerschaft just zu diesem Zeitpunkt eingelegt wurde, als auch die Nazis auf dem Schlossplatz die deutschen Opfer betrauerten. Doch trotz dieses sicherlich unglücklichen Timings, da waren sich die meisten Beobachter einig, überwogen die positiven Resonanzen.



Ein holländisches Ehepaar, dass gerade zum Kurt-Weill-Fest in der Stadt weilte, war ob des Protestes sichtlich überrascht und wünschte den Lokalen Aktionsplan für Demokratie und Toleranz ein gutes Gelingen für die Zukunft.

Solche Ermutigungen brauchen die demokratischen Kräfte in der Stadt, um die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Ereignislagen kontinuierlich und erfolgreich führen zu können. Man muss kein Prophet sein um bereits jetzt zu wissen, dass Dessau-Roßlau auch im kommenden Jahr zum Ziel der rechtsextremen Geschichtsrevisionisten werden wird. Das hat auch Klemens Koschig erkannt, der seine Rede mit einem konkreten Wunsch beendete: „Tun wir also in den nächsten zwölf Monaten alles, dass wir dann noch mehr sind.“ Nach dem 07. März 2009 ist also vor dem 07. März 2010. Der Initiativkreis tagt getreu dieser Maxime deshalb bereits am 01. 04. 2009: Kein Aprilscherz.

verantwortlich für den Artikel:

 

Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt