„Das ist eine neue Qualität in der politischen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus.“

Dessau-Roßlauer Bündnis protestiert am 31. Mai 2008 gegen Neonazidemo in der Muldestadt

Was sich im Vorfeld des Neonaziaufmarsches auf einschlägigen rechtsextremen Internetportalen und Diskussionsforen abspielte, spottet jeder Beschreibung: Eine Schilderung war blutrünstiger als die nächste. Angeblich, so Neonazis und organisierte Rechtsextremisten, hätten linke Jugendliche am Dessauer Hauptbahnhof am 18. Mai 2008 wahlweise „einen Kameraden“ oder einfach nur einen „Deutschen“ feige und brutal ermordet. Im Detail beschrieben vermeintliche Augenzeugen die Tat und verbanden dies mit einer aggressiven und menschenverachtenden Rhetorik, die für den 31. Mai nichts Gutes erahnen ließ.


eine Protestteilnehmerin positioniert sich klar und unmißverständlich


rund 70 Menschen beteilgten sich am demokratischen Protest


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ie sich schnell herausstellte, handelte es sich bei dem angeblichen Mord offensichtlich um einen klassischen Fall von „Anlasskonstruktion“ die augenscheinlich dazu dienen sollte, genügend Anhänger der rechten Szene nach Dessau zu mobilisieren und das eigene, gewalttätige Klientel so richtig anzuheizen. Die zuständige Staatsanwaltschaft und die Polizei dementierten das realitätsferne Gerücht umgehend. Es habe „definitiv“ keine Auseinandersetzung mit Todesfolge gegeben. Die Behörden bestätigten für diesen Tag eine Schlägerei am Bahnhof, deren Hintergründe oder etwaige politische Motivation derzeit aber noch völlig offen seien.

Umso wichtiger war es, dass das Dessau-Roßlauer Bündnis gegen Rechtsextremismus (BgR) Handlungsfähigkeit bewies und mit der Kundgebung „VIELFALT IST BUNT – Gegen Menschenfeindlichkeit, Nationalismus und Rechtsextremismus“ den demokratischen Protest organisierte. Bereits in ihrem Aufruf (mehr dazu hier…) hob die Initiative auf das zynische und irreführende Motto der Nazikundgebung ab. Die NPD, deren Jugendorganisation und gewaltbereite Neonazikameradschaften der Region versuchten mit dem Motto „Gegen linksfaschistische Gewalt“, nicht nur den demokratischen Protest in einer ideologische Nähe zum Faschismus zu rücken, sondern zudem einen Opfermythos zu konstruieren und vor allem von der Gewalt aus den eigenen Reihen, die für die Szene ein konstituierendes Moment darstelle, abzulenken.



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teffi Lemke, politische Bundesgeschäfstführerin Bündnis 90/Die Grünen, geht in ihrer Analyse gar noch einen Schritt weiter. Für sie ist die Taktik der Neonazis, mit einem Gerücht über einen angeblichen Mord Politik zu machen, womöglich eine gezielte Strategie: „Das ist eine neue Qualität in der politischen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus.“ Dieser Herausforderung, so die Bundespolitikerin, müsse man sich stellen.


Steffi Lemke spricht für das Bündnis

Die Gewalt geht von denen dahinten aus“, ist sich Steffen Andersch vom Projekt gegenPart sicher und deutet unter Beifall auf die Neonazis, die sich inzwischen in Sichtweise der Protestkundgebung versammelt haben. Andersch spricht von einer Revitalisierung des organisierten Rechtsextremismus in der Stadt (mehr dazu hier…) und dies, so der Projektleiter weiter, sei kein reines Bauchgefühl sondern mit Zahlen zu belegen: „So hat es allein 8 rechtsextreme Gewalttaten in diesem Jahr in Dessau-Roßlau gegeben, so viele wie nie zuvor.“

Apropos Nazis, deren Kundgebung ist derweil auf 80 Teilnehmer angewachsen. Weniger als angesichts der aufgeheizten Stimmung im Vorfeld zu erwarten waren. Ein Trost ist das freilich nicht. Die vom smarten Jungfunktionär und Betriebswirtschaftsstudenten Philipp Valenta aus Bernburg, der gleichzeitig Bundesvize der JN (Junge Nationaldemokraten; Jungendorganisation der NPD) ist und über enge Kontakte zum gewalttätigen Kameradschaftsspektrum verfügt (mehr dazu hier…), angemeldete Versammlung, erfüllt alle Klischees und könnte unter der sengenden Sonne Dessaus fast lächerlich wirken, wenn die Botschaften die von ihr ausgehen, nicht so gefährlich wären.


So kündigt der Magdeburger Neonaziaktivist Andreas B. mit krächzender Stimme – und mehr schreiend als artikulierend – seinen Kameraden Jens Bauer (Vorsitzender des NPD-Kreisverbandes Magdeburg) an. Der ergeht sich in Medienschelte, pflegt die lieb gewonnenen rechtsextremen Verschwörungstheorien und stellt die Neonazis einmal mehr als Opfer dar. Die aus Merseburg, Stassfurt, Köthen, Sangerhausen, Leipzig, Dessau-Roßlau und Aken angereisten Neonazis, verstärkt durch den Ring Nationaler Frauen (RNF), blicken sich derweil aufgeregt um und bestätigen wie auf Befehl durch kollektives Kopfnicken die eigene Realitätsresistenz.

Nach der Kundgebung an der Museumskreuzung beantragen die Neonazis noch eine Spontandemonstration zum Hauptbahnhof. Die Polizei genehmigt den Aufzug schließlich. Nach einer halben Stunde kommt der Aufmarsch dort an. Wenig später machen sich die Nazis auf den Weg, um im benachbarten Köthen eine nicht genehmigte Demonstration durchzuführen. Die zuständigen Stellen ermitteln wegen des Verstosses gegen das Versammlungsgesetz.



Rechtsextremist Christian W. (2 Fahnenträger v. l.) aus der Neonaziskameradschaft "Freie Nationalisten Aken/Elbe"

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as es an diesem Tag relativ ruhig blieb, ist wohl vor allem dem starken Polizeiaufgebot zu verdanken.

Viele Beobachter waren sich darin einig, dass dies wohl nicht der letzte Besuch der Menschenfeinde von Rechts in der Muldestadt in diesem Jahr war.

verantwortlich für den Artikel:

 

 

Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt