„Wer das nicht hört, dem kann nicht mehr geholfen werden.“

mehrere 100 Menschen setzen in Zerbst deutliches Zeichen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus

Andreas Dittmann hat in letzten Tagen unermüdlich gerödelt und organisiert. Er hat unzählige Telefonate geführt, E-Mails verschickt und der Presse Rede und Antwort gestanden. Zu Beginn des Festes für Demokratie und Toleranz unter dem sinnigen Motto „Zerbst bekennt Farbe“ fällt beim Kulturamtsleiter der Stadt sichtlich die Anspannung ab: „Trotz Regens haben sich hier mehr Leute versammelt als unter den Fahnen der NPD.“ Und damit stapelt der SPD-Mann keineswegs zu hoch. Der Platz am Roten Garten ist mit mehreren 100 Menschen gefüllt, die politischen Verantwortungsträger sind gekommen, Vereine präsentieren sich und von der Bäckerei bis zum Baumarkt sorgt die regionale Wirtschaft dafür, dass auch genug Kuchen und Fingermalfarbe am Start ist.


Kulturamtsleiter und engagierter Kommunalpolitiker: Andreas Dittmann

Damit, so scheint es, ist es in Zerbst erstmals gelungen, einen breitgetragenen Protest gegen Rechts auf die Straße zu bringen. Wie breit tatsächlich beweist Dittmannn wenig später, als er „die Freunde aus der K6“ begrüßt. Rund 50 Jugendliche aus dem alternativen Kulturprojekt waren wenige Minuten zuvor unter „Nazis raus!“-Rufen lautstark auf den Platz gezogen.


waren durchaus willkommen: alternative Jugendliche in ihren auffälligen Klamotten


Stiefeln gegen Rechts

Ich begrüße Innenminister Holger Hövelmann, die Hauptzielperson dieser miesen Attacke“, sagt Dittmann und erklärt sich damit mit seinem Parteigenossen solidarisch. Schließlich kündigt er zunächst ein konstatiertes Glockengeläut an, mit dem die Nazis symbolisch aus der Stadt geklingelt werden sollen: „Wer das nicht hört, dem kann nicht mehr geholfen werden.“

Bürgermeister Helmut Behrendt (FDP) ist vor allem über den Beschluss des Oberverwaltungsgerichtes, fast alle polizeilichen Auflagen der Neonazidemo für nichtig zu erklären und es den Rechtsextremisten zudem zu erlauben, am Haus Hövelmanns vorbeizuziehen, empört: „Wenn man selbst nicht davon betroffen ist, kann man solche Entscheidungen treffen.“ Damit, so Behrendt weiter, würde die verfassungsfeindliche NPD schließlich stark gemacht. Es könne nicht angehen, dass in einer solchen Weise die Privatssphäre eines Mannes berührt werde, der sich nicht nur einmal unmissverständlich gegen Rechtsextremismus positioniert habe. Gerade weil der Innenminister klar zu einem NPD-Verbot stehe, müsse man sich mit ihm solidarisch zeigen: „Dazu stehen wir.“ Das Stadtoberhaupt greift den Geschichtsrevisionismus der extremen Rechten auf und erteilt deren Täter-Opfer-Verdrehung eine Abfuhr: „Wer hat uns den die Amerikaner, Briten und Russen hergebracht? Das waren die Nazis!“ Einer solchen Geschichtsverfälschung müsse immer wieder widersprochen werden. Genau deshalb appelliert er abschließend: „Nicht wegschauen, hingehen und Farbe bekennen.“


Stadtoberhaupt Helmut Behrendt kritisiert mit deutlichen Worten den Gerichtsbeschluss

Die NPD mit ihren Trommeln und ihrem soldatischen Auftreten wollen uns zu einem neuen Hass verleiten.“, ist sich Kirchenpräsident Helge Klassohn sicher. Dagegen müsse man sich in aller Deutlichkeit stark machen. Klassohn benennt die Opfer des Nationalsozialismus, zu denen er diese unter der deutschen Zivilbevölkerung ausdrücklich mitzählt: „Viel zu schnell hat sich das deutsche Volk an die Macht Hitlers gewöhnt und sich geduckt.“ Die aller meisten hätten weggeschaut, als die Juden und Sinti und Roma gedemütigt, geschlagen, beraubt und schließlich in die Vernichtungslager deportiert wurden. Diese Gleichgültigkeit und Ignoranz dürfe sich nicht wiederholen und es gelte, die Menschen stark zu machen: „Demokratie braucht Demokraten. Bürger, die Demokratie auch tatsächlich wollen.“ Dazu gehöre eben auch, die politische Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus zu suchen: „Zu viel steht für uns auf dem Spiel. Wir lassen uns von den Neu-Nazis nicht beschämen.“ Hier seien nicht nur Politiker und die Polizei gefragt, sondern jeder Einzelne habe eine Verantwortung für das Gemeinwesen.


Kirchenpräsident Helge Klassohn appelliert an die Verantwortung aller Demokraten

Das Motto „Aufstand für Deutschland“, unter dem die Nazis durch die Stadt ziehen und damit den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 für ihre menschenfeindliche Ziele instrumentalisieren wollen, bezeichnet der Kirchenpräsident „als Zumutung für den gesunden Menschenverstand“. Klassohn stellt fest: „Die Bestrebungen der NPD sind gegen und nicht für Deutschland gerichtet. Sie verbreiten Lügen und haben in Zerbst nichts suchen.“ Optimistisch verspricht er zum Schluss: „Dem braunen Ungeist werden wir widersprechen und Widerstand leisten und sei es auch in der eigenen Familie, im eigenen Freundeskreis.“





Innenminister Holger Hövelmann wirkt angesichts der turbulenten Geschehnisse um seine Person erstaunlich ruhig. Der SPD-Landesvorsitzende geht augenscheinlich in die Offensive und zeigt sich bewusst selbstsicher. „Das macht Mut und das ist gut so“, bedankt er sich unter starken Applaus dafür, dass soviele Menschen gekommen sind. Das er offensichtlich ein Heimspiel hat, ist unverkennbar. Was man heute in Zerbst erlebe, sei Wochenende für Wochenende Alltag in Sachsen-Anhalt. „Sie wollen durch die Straßen marschieren und die Straßen beherrschen.“, sagt er zu rechtsextremen Aufmärschen und Neonazidemonstrationen. Hövelmann findet das zivilgesellschaftlich-demokratische Engagement deshalb so wichtig: „Ich finde es gut das es bisher gelungen ist, danach die Straße vom braunen Dreck zu säubern.“ Er spricht von einem „regelrechten Wettbewerb“, in dem die Rechtsextremisten immer wieder versuchen würden, das Versammlungsgesetz auszureizen und gegen entsprechende Verbote und Auflagen zu klagen. Da wo es nicht gelinge, einen breiten demokratischen Protest auf die Straße zu bringen, müssten zu oft Polizeibeamte dieses Szenario ausbaden. „Danke, Polizei!“, sagt der SPD-Mann kurz und knapp.


ein nachdenklicher Innenminister Holger Hövelmann

Für ihn ist das Motto des Neonaziaufmarsches mehr als eine bloße Zumutung: „Wo kommen wir den da hin, wenn die Rechtsextremen unsere Themen besetzen?“ Die heutigen Nazis hätten dabei eine besorgniserregende Strategie entwickelt: „Es geht auch darum, bestimmte Personen einzuschüchtern und Angst zu machen.“ Hövelmann spielt hier wohl auf sich selbst ein und gibt sich gleichzeitig kämpferisch: „Das macht uns nur noch mutiger, das macht uns nur noch frecher.“ Bevor er sich ausdrücklich bei Andreas Dittmann für dessen Engagement bedankt, hat Holger Hövelmann noch einen Handlungsaufforderung im Gepäck: „Es muss darum gehen, auch mit Witz und Ironie, die öffentlichen Plätze der Stadt zu verteidigen.“


Aussitzen gegen Rechts



Wir stehen an ihrer Seite, liebe Zerbsterinnen und Zerbster“, beginnt Michael Kleber sein Statement. Der DGB-Regionalchef ist seit Jahren im Dessau-Roßlauer Bündnis gegen Rechtsextremismus (mehr dazu hier...) und im Netzwerk Zivilgesellschaft Anhalt (mehr dazu hier...) engagiert und wünscht sich eine noch engere Kooperation in der Region. Auch Kleber sieht historische Parallelen: „Die Leute von DVU und NPD gehen heute genau so verlogen vor, wie die Nazis vor 75 Jahren.“ Das erschreckende bei diesem Populismus von Rechts sei, das er an nicht wenigen Stammtischen gut ankomme. „Ich bin dafür, dass die NPD endlich verboten wird.“, fordert der Gewerkschafter und bekommt dafür starken Beifall. Ein Verbot könne zwar die Ideologie nicht aus den Köpfen verdammen, aber durchaus ein Zeichen mit Symbolkraft sein.


der Gewerkschafter Michael Kleber ist im Dessau-Roßlauer Bündnis gegen Rechtsextremismus engagiert


der Platz am Roten Garten war voller Menschen

S
chon vor den Rednern, aber auch danach, haben die ZerbsterInnen einige Gelegenheiten, ihren Protest ganz praktisch werden zu lassen. Viele selbst gemachte Schildchen zeugen dabei von der Kreativität der Bürger. Der „Dicke Turm“ ist ganz demokratisch verziert und in der Stadt sind allenorts bunt geschmückte Fassaden zu bestaunen. Der DJ sorgt mit Rock und Pop für eine kosmopolitische Umrahmung und mit viel Liebe zum Detail werden vormals braune Umzugskartons zu einer bunten „Mauer des Protests“. Ein voller Erfolg ist auch die Aktion „Bunte Torten statt braune Soße“, auch wenn vom süßen Wahrzeichen der Stadt schon nach einiger Zeit nur noch Fragmente übrig sind.


mit Fingerfarben wurde aus braunen Kartons eine bunte Mauer des Protestes






Zerbst schon fast verspeist

Und während im Roten Garten der Bär steppt, spulen die Nazis, begleitet von einem starken Polizeiaufgebot, ihre insgesamt 7 Kilometer lange Demonstrationsroute ab. Wie eingeklagt, auch am Haus des Innenministers vorbei. Der NPD-Landesvorstand marschiert ebenso mit, wie die rechtsextreme Jugendorganisation der Partei (JN; Junge Nationaldemokraten) und Neonazikameradschaften aus der Region. Zu den menschenfeindlichen Kameraden sprechen u. a. Andy Knape, der stellvertretende JN-Landesvorsitzender, der NPD-Geschäftsführer Matthias Heyder und Matthias Gärtner, der den „Nationalen Bildungskreis“ (mehr dazu hier...) der JN leitet und an der Universität in Magdeburg Geisteswissenschaften studiert. Am Rande erstatten engagierte Bürger zwei Strafanzeigen wegen Hakenkreuzschmierereien und dem Anbringen von SS-Runen.


die Neonazis verspotten bei ihrem Marsch durch Zerbst Innenminister Hövelmann


Neonazis teils aus dem Landkreis Harz


Aktivisten der Neonazikameradschaft "Freie Nationalisten Dessau", am Transparent ganz links: Alexander W.


A
m Sonntagabend verschickt Andreas Dittmann erneut eine Rundmail. „Wir können uns gegenseitig gratulieren“, zieht der Kulturamtsleiter ein durchaus positives Resümee. Die Akteure der Stadt planen jetzt übrigens, ihr Engagement für Demokratie und Toleranz zu verstetigen und mit anderen Bündnissen zusammen zuarbeiten. Ein solches Projekt braucht auch immer eine gelungen Start. Nun, der ist am 14. Juni wahrlich gelungen.

verantwortlich für den Artikel:

 

 

Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt