Beratungsprojekte gegen Rechtsextremismus in Anhalt bilanzieren das erste Halbjahr 2010

leichter Rückgang der verzeichneten Straf- und Gewalttaten // Dessau-Roßlau erneut Hochburg rechtsextremer Aktivitäten in der Region // Landkreis Anhalt-Bitterfeld holt auf

Die Zahlen und Analysen der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt (OBS) und des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus (Projekt gegenPart) beschreiben ein deutliches Bild: Die Region Anhalt (Dessau-Roßlau, Landkreis Wittenberg, Landkreis Anhalt-Bitterfeld)  ist nach wie vor ein Hotspot rechtsextremer Aktivitäten in Sachsen-Anhalt. Der leichte Rückgang der verzeichneten Ereignislagen und Angriffe ist eine erfreuliche Entwicklung, die jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass neonazistisch und demokratiefeindlich motivierte Bestrebungen auf einem hohen Niveau verweilen. Zwischen Elbe und Saale haben statistisch gesehen alle zwei Tage Rechtsextremisten Menschen bedroht, Aufmärsche organisiert, Propagandadelikte verübt und zugeschlagen. Obwohl in der kreisfreien Stadt Dessau-Roßlau erneut die meisten Meldungen festgestellt werden konnten, machen beide Beratungsprojekte einen Trend aus: Der Landkreis Anhalt-Bitterfeld holt auf.

So entfielen in den ersten beiden Quartalen in diesem Jahr insgesamt 53% der Einträge in der gegenPart-Chronik (mehr dazu hier...), in der das Projekt rechtsextreme Straf- und Gewalttaten, Propagandadelikte und Ereignislagen verzeichnet, auf Dessau-Roßlau. In den zurückliegenden Jahren war diese Quote oft deutlich höher. Zieht man die Angriffsstatistik der Opferberatungsstelle aus dem Vorjahresvergleichszeitraum heran, wird die geographische Verschiebung noch deutlicher. Während die Initiative im 1. Halbjahr 2009  noch 15 Angriffe in der Doppelstadt registrierte (mehr dazu hier), was 83% des Gesamtaufkommens entsprach, waren es im aktuellen Zeitraum noch 9 Delikte (60 % des Gesamtaufkommens).


                                                                                                     Quelle/Graphik: Projekt gegenPart


Statistik der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt 1. Halbjahr 2010

Die Opferberatungsstelle registrierte im Berichtzeitraum (1. Halbjahr 2010) insgesamt 15 Straf- und Gewalttaten mit einer rechtsextremen Motivation. Damit sind die festgestellten Delikte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum (2009: 18) leicht rückläufig (mehr dazu hier...).

Von Januar bis Juni 2010 sind der Dessauer Beratungsstelle für Opfer rechter Straf- und Gewalttaten für die Region Anhalt/Bitterfeld/Wittenberg 15 opferberatungsrelevante Ereignislagen mit einem rechten Hintergrund bekannt geworden.

Auf den Zuständigkeitsbereich der Beratungsstelle verteilen sich die 15 Fälle wie folgt:


                                                                                                    Quelle/Graphik: OBS Dessau-Roßlau

Rund 60 Prozent aller Fälle im Halbjahr 2010 haben in der Doppelstadt Dessau-Roßlau stattgefunden.
 
Die Zuordnung der Fälle nach Straftatbeständen ergibt folgendes Bild:


                                                                                                    Quelle/Graphik: OBS Dessau-Roßlau

Die Zuordnung der Fälle nach Opfergruppen und vermuteter Tatmotivation ergibt folgende grafische Darstellung:


                                                                                                    Quelle/Graphik: OBS Dessau-Roßlau

Vergleich der Angriffe Jahr 2007 bis Jahr 2009 nach Zuständigkeitsbereich der Beratungsstelle:


                                                                                                    Quelle/Graphik: OBS Dessau-Roßlau

Vergleich der Angriffe Jahr 2004 bis Jahr 2009:


                                                                                                    Quelle/Graphik: OBS Dessau-Roßlau


Bilanz des Mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus

Die Analyse der Beratungsfälle bekräftigt den Schluss, dass in Dessau-Roßlau der Bedarf Verwaltungen, Vereine, Institutionen und Bürgerinitiativen bei der Bewältigung rechtsextremer Ereignislagen zu unterstützten, am größten war. Auch hier zeigt sich, dass der Bedarf im Landkreis Anhalt-Bitterfeld nur geringfügig kleiner war.


                                                                                                     Quelle/Graphik: Projekt gegenPart

Zudem ist der Beratungsbilanz zu entnehmen, dass das  Projekt gegenPart in den letzten sechs Monaten schwerpunktmäßig kommunale Verwaltungen und Bürgerbündnisse begleitet hat.


                                                                                                     Quelle/Graphik: Projekt gegenPart

Rechtsextremismus-Monitor für die Region Anhalt

Das Projekt gegenPart hat in seiner Chronik  im 1. Halbjahr diesen Jahres (mehr dazu hier...) insgesamt 69 Einträge vorzuweisen, die insgesamt 78 rechtsextremen Delikten und Ereignislagen entsprechen. Damit hat das Gesamtaufkommen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 24  % abgenommen (mehr dazu hier...). Während sich der Trend der Abnahme von Propagandastraftaten nicht fortsetzte, konnte ein Rückgang der Gewaltstraftaten (von 7 auf 11 Delikte) ausgemacht werden. Indes haben so genannte Ehrverletzungen (Bedrohung, Nötigung, Beleidigung) zugenommen. Der Rückgang ist zudem mit dem Umstand zu begründen, dass im abgelaufenen Berichtszeitraum keine  rechtsextremen Ereignislagen festgestellt wurden sind, die im Zusammenhang mit Wahlkampfaktivitäten stehen. Dies ist einer simplen Tatsache geschuldet: Es standen keine Wahlen an. 

Neonazikameradschaften

In der Region Anhalt sind im ersten Halbjahr Jahr 2010 fünf rechtsextreme Personenzusammenschlüsse (Neonazikameradschaft) in Erscheinung getreten. Als deutungsmächtigste unter ihnen können dabei die „Freien Nationalisten Dessau/Anhalt“ angesehen werden. Diese Gruppierung um ihre Führungspersönlichkeit Alexander Weinert sichert die strategische und operative Kampagnenfähigkeit der Szene in der Region ab. Der Verfassungsschutzbericht Sachsen-Anhalts aus dem Jahr 2009 bezeichnet Alexander Weinert als „regionale Führungspersönlichkeit“. Die engen Kontakte und personellen Verflechtungen der Dessauer Neonazikameradschaft zu den „Freien Nationalisten Anhalt-Bitterfeld“ sind zudem eine Erklärung dafür, warum die hiesige Szene ihre Projektions- und Aktionsfläche zusehends in den Landkreis zwischen Aken und Zerbst verlagert.


Neonazis aus Dessau-Roßlau auf einer rechten Demonstration am 30. Dezember 2009 (mehr dazu hier...)


Neonazis der Kameradschaft "Freie Nationalisten Anhalt-Bitterfeld"

Als identitätsstiftender Höhepunkt in der Region, kann einmal mehr der so genannte Trauermarsch im März diesen Jahres in Dessau-Roßlau angesehen werden. Dieses extrem rechte Event verbindet eine neonazistische Erlebniswelt mit NS-glorifizierenden Elementen und ist damit für Rechtsextremisten aller Couleur, ganz unabhängig von ideologischen und strategischen Verwerfungen, attraktiv (mehr dazu hier...).

Das Verhältnis der Neonazikameradschaften zu regionalen NPD-Strukturen muss als ambivalent beschrieben werden. Die Kameradschaften in Dessau-Roßlau und Anhalt-Bitterfeld kooperieren kaum mit der eher aktionsorientierten NPD-Jugendorganisation (JN). Das liegt vor allem an der aktiven Rolle, die die ehemalige NPD-Landesvorsitzende Carola Holz in diesen Gruppierungen ausfüllt. Holz verließ im Jahr 2008 im Streit den NPD-Landesvorstand, gilt in weiten Teilen der Partei als Reizfigur.

Die neonazistische NPD    

In der Region sind mit den Kreisverbänden „Wittenberg“ und „Anhalt-Wolfen-Dessau“ zwei Basisorganisationen der neonazistischen Kampfpartei ansässig. In den letzten beiden Jahren spielten beide Gliederung landespolitisch keine maßgebliche Rolle in der NPD-Strategie. Dies verwundert kaum, sitzt doch Carola Holz seit 2007 für die NPD im Kreistag Anhalt-Bitterfelds. Der Köthener Neonazi Steffen Bösener, der die NPD im Kommunalparlament der Bachstadt vertritt, ist weiterhin eine wichtige Integrationsperson in der Region. Seinen extrem rechten Szeneladen „Nordic Flame“ in der Köthener Innenstadt hat er im Februar 2010  zwar geschlossen, leitet jedoch die Geschicke des bundesweit  relevanten Online-Versandes „Odins Eye“ weiter.


Der Köthener Neonazi und NPD-Stadtrat Steffen Bösener

Die Bedeutung der regionalen NPD-Strukturen könnte in den nächsten Monaten jedoch erheblich steigen. So hat der NPD-Landeschef und Spitzenkandidat zur Landtagswahl 2011, Matthias Heyder, kürzlich angekündigt, im Wahlkreis Wittenberg-Dessau anzutreten. Ob dabei nur symbolische Erwägungen im Vordergrund stehen, muss sich erst noch zeigen. Vorstellbar ist, dass die NPD damit in dem Wahlkreis Flagge zeigen möchte, in dem auch der sachsen-anhaltische Wirtschaftsminister Dr. Reiner Haselloff (CDU) kandidiert. Es ist aber nicht auszuschließen, dass die Basisorganisationen in Wittenberg und Anhalt damit aufgewertet werden sollen. Der Lackmus-Test für die NPD wird wohl in der Frage bestehen, wie es ihr gelingt, die AktivistInnen der Neonazikameradschaften in den Straßenwahlkampf einbinden zu können.


 
Fazit & Ausblick

Die extrem rechten Strukturen in Anhalt sind überregional gut vernetzt und können regional einen harten Kern von Aktivisten vorweisen. Der leichte Rückgang der verzeichneten Ereignislagen und Straftaten ist auch auf die verstärkten repressiven Maßnahmen von Polizei und Justiz zurückzuführen.

Das Gebot der Stunde muss heißen: Wachsam bleiben und neonazistischen Aktivitäten im öffentlichen Raum entschlossen entgegentreten. Dazu sind auch innovative Konzepte und neue  Aktions- und Protestformen notwendig. Ziviler Ungehorsam, wie jüngst die friedlichen Blockaden eines Neonaziaufmarsches in Dessau nach einem Aufruf des Netzwerkes GELEBTE DEMOKRATIE, gehört zweifellos dazu (mehr dazu hier...)

Zudem kommt auf die Region und das gesamte Land Sachsen-Anhalt im kommenden Jahr eine nicht zu unterschätzende Herausforderung zu. Der NPD-Bundesvorstand hat schon vor Monaten den Landtagswahlkampf 2011 zwischen Arendsee und Zeitz zu seinem zentralen Projekt ausgerufen.

Diese Ankündigung ist nicht nur ernst zu nehmen, man kann sie auch durchaus als Drohung und Angriff auf das demokratische Gemeinwesen verstehen.



Infos/Kontakt:

 

Projekt GegenPart – Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Anhalt