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„Ich hatte das letzte Vertrauen in die Deutschen verloren“

Zeitzeugengespräch mit dem Holocaust-Überlebenden Jules Schelvis




Im Rahmen der Reihe „Zeugnis ablegen bis zum letzten Tag..“, konnte das Alternative Jugendzentrum Dessau (AJZ e.V.) am 05. Oktober 2005 den Holocaust-Überlebenden Jules Schelvis als Gast begrüßen. Jana Müller (AJZ e. V.) betonte in ihrer Anmoderation den außergewöhnlichen Lebensweg des Zeitzeugen: „Sie gehören zu den wenigen, die ein Vernichtungslager überlebt haben.“.

Die Odyssee des holländischen Juden durch die deutschen Vernichtungs- und Konzentrationslager ist mit ganz konkreten Orten des Terrors verbunden: Westerbork, Sobibor, Dorohucza, Lublin, Radom, Tomaszow, Auschwitz und Vaihingen.

Jules Schelvis begann seinen Bericht mit einem Exkurs in die Kindheit. 1921 in Amsterdam geboren, wuchs er in einem jüdischen Elternhaus auf und besuchte die Mittelschule. Doch bereits im Alter von 19 Jahren erlebte er die herannahende Invasion der deutschen Wehrmacht hautnah. Am 10. Mai 1940 wurde die Familie Schelvis von Flugzeuggeräuschen aus dem Schlaf gerissen. Aus dem Radio erfuhren sie dann, dass Deutschland Holland überfallen hatte. „Niemand konnte damals wissen, dass das der Auftakt zur fast vollständigen Ausrottung der europäischen Juden war.“, erinnert er sich. Das niederländische Heer führte gegen die Übermacht der faschistischen Truppen einen ausweglosen Kampf. Am 14. Mai 1940 war er gerade auf dem Weg von seinem Elternhaus zu einer befreundeten Familie die aus Polen stammte, dort Antisemitismus erlebt hatte und jetzt im Judenviertel Amsterdams wohnte. „Dort herrschte wegen des Krieges große Angst“, rekapitulierte Jules Schelvis seine damaligen Eindrücke.

Nach einer Zeit der relativen Ruhe wurden im Juni 1941 auch in Holland antijüdische Verordnungen erlassen. Die Juden mussten sich u. a. registrieren lassen, durften keine Parkbänke mehr benutzen, keine Cafes besuchen, keine Radios mehr besitzen und unterlagen nach 20.00 Uhr einer generellen Ausgangssperre. Schließlich mussten sie sich auf dem Standesamt ein „J“ in den Ausweis eintragen lassen. Bereits im Februar 1941 hatten die Deutschen in Amsterdam einen Judenrat eingesetzt, der die Einhaltung der sozialen Einschränkungen zu überwachen hatte.

Trotz dieser Situation beschloss Jules Schelvis, im September 1941 zu heiraten. Er ehelichte seine erste Frau Rachel Borzykowski, die aus der bereits erwähnten polnischen Familie stammte. Ein taktischer Grund für die etwas überstürzte Heirat lag darin, der drohenden Deportation zum Arbeitseinsatz nach Deutschland, von der insbesondere polnische Juden in Holland zu diesem Zeitpunkt bedroht waren, entgehen zu können. Wie sich nur wenig später herausstellen sollte, erwies sich diese Taktik als Trugschluss.

Mitte 1942 liefen die Deportationen der Juden aus Holland auf Hochtouren. Soldaten der Ordnungspolizei umstellten ganze Häuserblöcke und suchten anhand von Listen nach den Juden. Am Morgen des 25. Mai 1943 vernahm die Familie Schelvis-Borzykowsk eine folgenschwere Lautsprecherdurchsage: „Achtung, Achtung hier spricht die deutsche Polizei. Die ganze Umgebung ist umstellt (...). Sie werden nach Deutschland geschickt (...).“. Auch sie mussten auf der Strasse antreten und wurden zum Umschlagplatz getrieben. Nach stundenlangem Stehen in der Sonne, mussten sie in eine Straßenbahn einsteigen. „Gestern durften wir nicht mit der Tram fahren, nun mußten wir“, erinnert sich Jules Schelvis an die bizarre Situation. Schließlich wurden sie nach Westerbork, dem holländischen Durchgangslager zur Vernichtung gebracht und blieben dort 6 Tage. Am 01. Juni 1943 wurden sie mit insgesamt 3006 anderen Juden in einen Zug mit geschlossenen Viehwaggongs verfrachtet.  „Alleine in unserem Hänger waren 63 Menschen“, schilderte der Zeitzeuge die unmenschlichen Bedingungen des Transports. Die Fahrt dauerte ganze 3 Tage. Sogar an einzelne Stationen erinnert sich Jules Schelvis noch. So sind im noch die Orte Wittenberge und Berlin-Spandau im Gedächtnis. „Wir kamen um vor Durst und wir hatten eigentlich nur die Frage, wie wir endlich aus diesem stickigem Waggon rauskommen.“.  Nicht ohne Verbitterung fasst er seine damaligen Eindrücke zusammen: „Unser Land, dass einmal 140.000 Juden hatte, hatte das alles zugelassen, mit angesehen. Mit einem unbestimmten Gefühl nahmen wir Abschied von unserem Land.“.

Der Zug hielt schließlich und jüdische Männer schrien und brüllten in jiddisch. Beim brutalen Ausstieg setzten SS-Männer Gewehrkolben und Peitschen ein. Dass sie in Sobibor waren,  wusste Jules da noch nicht: „Es war ein Bahnsteig aus Sand und Erde, es war klar, daß wir am Ziel waren. Ein Ort, so dachte ich, wo wir arbeiten müssen“.
Unter Peitschenschlägen wurden sie weiter getrieben. Sie sahen die ersten Baracken. Seine Frau versteckte geistesgegenwärtig die goldene Uhr im Sand. Sie mussten ihr Gepäck ablegen und alles auf einen großen Haufen werfen. Die Frauen wurden in eine Richtung getrieben und an einer Hecke musterte ein SS-Mann die Männer. Jules jüngerer Schwager, Hermann, war zu jung, sein Schwiegervater zu alt und auch er wurde erst nicht zu Arbeit ausgewählt. Wir er später erfuhr, sollten bei dieser Selektion nur 80 Männer ausgewählt werden, die anderen wurden nicht gebraucht und landeten in der Gaskammer. Jules, der die Tragweite der Situation damals noch nicht erfasste, sprach darauf hin einen SS-Mann an und fragte ihn, ob er nicht zu seinem älteren Schwager in die andere Gruppe könne. Dieser bejahte die Frage nach kurzem Zögern mit einer Kopfbewegung. Das war die Frage, die Jules das Leben rettete. Wenig später wurde den neu angekommenen Häftlingen von der SS mitgeteilt, dass sie nun in einem Außenlager zu arbeiten hätten und abends ins Lager zurückkommen würden, wo sie mit ihren Bekannten und Verwandten zusammen essen und sich vergnügen könnten. Die anderen würden jetzt nach Geschlecht getrennt baden gehen, denn schließlich müssten sie einsehen, dass man nicht zusammen duschen könne. Jules schenkte dieser Version in diesem Moment, wenn auch nur für einige Stunden, glauben.  Aus dem Munde des SS-Mannes Erich Bauer, der sich 1966 in Hagen vor einem Schwurgericht verantworten musste, erfuhr Jules Schelvis Jahrzehnte später minutiös alle Details des Vernichtungsvorganges in Sobibor. „Das bedeutet, dass am 04. Juni 1943 2925 Menschen vergast wurden. Auch meine junge Frau. Rachel- 20 Jahre alt. Einfach vergast!“, so Jules Schelvis mit Trauer in der Stimme.

Im Außenlager Dorohucza angekommen, wurden Jules Schelvis und seine Leidensgenossen durch einen SS-Mann empfangen, der betrunken über ihre Köpfe hinwegschoss. Er hörte niederländische und polnische Stimmen und schließlich hielt ein Kapo aus Holland eine Rede, die Jules Schelvis heute noch präsent ist. Er teilte ihnen mit, dass sie in Dorohucza gelandet sind und die Deutschen sie zum Torfstechen hergebracht haben. Unverblümt stellte er fest, dass das Leben hier sehr schlecht sei und es massenweise Läuse gebe. Er warnte alle davor, selbst beim größten Durst nicht aus dem nahen Fluss zu trinken. Leute die krank seien, brauchen die Deutschen nicht. Mit denen würden sie kurzen Prozess machen. „Ich hatte das letzte Vertrauen in die Deutschen verloren“ , kommentiert Jules Schelvis diese Situation am 05. Oktober 2005. Das Vertrauen hat Jules verloren, als er begriff, daß es am Abend nicht zurück zur Familie ging.
Am nächsten Morgen folgte die Registrierung beim Lagerschreiber und bei der anzugebenen Berufsbezeichnung machte sich Jules kurz entschlossen zum Mechaniker. Eine Szene kurz nach der Ankunft in Dorohucza, lässt Jules heute noch nicht los. Damals sah er am Fluss Häftlinge, die sich gegenseitig lausten: „So was hatte ich noch nicht gesehen. Da war ich aus der westlichen Zivilisation in einen gottverlassenen Ort versetzt wurden. Das war so unwirklich, dass ich mir vorkam wie auf einem anderen Planeten“.  

Der Kommandant von Dorohucza, SS-Hauptscharführer Gottfried Schwarz, war zuvor  im Vernichtungslager Belzec tätig. Dort war verantwortlich für die Ermordung von 600.000 Menschen. Unter seinem Terrorregime hatten die Häftlinge in Dorohucza eine durchschnittliche Lebenserwartung von 5-6 Wochen. Jules Schelvis berichtet, dass nach dieser Zeitspanne viele Menschen bereits das Muselmannstadium erreicht hatten, das heißt sie waren völlig apathisch und vegetierten dahin.

Jules Schelvis kam nach 2 Wochen in Dorohucza in das Konzentrationslager „Alter Flugplatz“ in der Lublin, das sich gegenüber dem Konzentrationslager Majdanek befand. Von dort kam er in das Ghetto Radom, wo er insgesamt viereinhalb Monate verbrachte. Im Lager Szkolna mussten er danach in einer Waffenfabrik schuften. Szkolna wurde von der SS in aller Eile geräumt, als die Rote Armee nur noch 30 Kilometer entfernt war. Zusammen mit 3000 anderen Juden auf einen Todesmarsch geschickt, kam Jules in Auschwitz an.  Er rechnete damit, daß dies sein Ende bedeutete. "Aber noch einmal meinte es das Schicksal gut mit mir und 1800 anderen Häftlingen. Wir wurden von Auschwitz sofort weiter deportiert.". Das Ziel: Vaihingen an der Enz, ca. 20 Kilometer von Stuttgart entfernt. In den dortigen unterirdischen Messerschmidt-Werken, waren die Lebensbedingungen für die Häftlinge katastrophal.  Am 07. April 1945 befreiten französische Truppen Jules Schelvis, der an Flecktyphus erkrankt war.

Bezeichnenderweise auf Wehrmachtspapier, schrieb Jules Schelvis kurz nach der Befreiung seine Erlebnisse nieder und ließ diese später dem niederländischen Institut für Kriegsdokumentation zukommen.

Lange sprach der Holländer nicht über seinen Leidensweg. Ab Mitte der 1960er Jahre, trat er als Nebenkläger in zahlreichen Prozessen gegen SS-Verbrecher in Erscheinung. Mittlerweile hat er mehrere Bücher publiziert, darunter das Standardwerk zum Vernichtungslager Sobibor.

Heute steht Jules Schelvis regelmäßig für Zeitzeugengespräche an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen zur Verfügung.

Infos/Kontakt:
Alternatives Jugendzentrum e. V. Dessau
Jana Müller
Schlachthofstr. 25
06844 Dessau
Tel.: 0340/ 26 60 21 9
e-mail: ajz-dessau@web.de

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