Ein Flüchtling mit afrikanischem Migrationshintergrund kann nicht mehr hinschauen, als er die brutalen Bilder aus dem Bürgerkrieg in Sierra Leone sieht. Die Sequenz ist Bestandteil des WDR-Dokumentarfilms „Tod in der Zelle“. Mit diesem begann am vergangenen Donnerstag die gleichnamige Veranstaltung im Dessauer Schwabehaus im Rahmen der Interkulturellen Woche. Oury Jalloh, der einst zusammen mit Freunden und der Familie vor dem Bürgerkrieg in Sierra Leone ins westafrikanische Guinea flüchtete, verbrannte am 07. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle (mehr dazu hier...). Die Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt. Das zuständige Landgericht hat 21 Monate nach dem Brand die entsprechende Hauptverhandlung gegen zwei angeklagte Polizeibeamte (mehr dazu hier...) noch immer nicht eröffnet (mehr dazu hier...).
Nachdem Film, der den Stand im Fall Jalloh vom Januar 2006 zeigt, warten die 40 Gäste gespannt auf die Ausführungen von Regina Götz aus Berlin. Die Anwältin vertritt die Mutter Oury Jallohs in dem Verfahren als Nebenklägerin. Immerhin, so erfährt das Publikum, ist die Nebenklage im September 2006 vom Dessauer Landgericht endlich zugelassen worden (mehr dazu hier...). Allerdings haben die Anwälte der Polizeibeamten gegen die Zulassung Beschwerde eingelegt. „Da muss noch ein höheres Gericht über die Sache entscheiden“, so die Juristin. Dennoch ist Regina Götz verhalten optimistisch, geht sie doch davon aus, dass das Landgericht „in Kürze“ verkünden wird, ob und wann eine Hauptverhandlung stattfinden wird.
“Es gibt keine andere Anklage. Es gibt keinerlei Beweise für andere Delikte. Nur Spekulationen.“, sagt die Referentin hinsichtlich der ungeklärten und höchst widersprüchlichen Ereignisse an jenem Januartag vor fast 2 Jahren. Sie will damit offensichtlich auf die Anklage der Staatsanwaltschaft hinaus. Diese wirft dem damaligen Dienstgruppenleiter des Polizeireviers in der Wolfgangstrasse Körperverletzung mit Todesfolge als Unterlassungsdelikt vor. Ihm wird u. a. vorgeworfen, einen Alarm aus der Zelle ignoriert und mehrmals abgeschaltet zu haben. Gegen den anderen Beamten lautet die Anklage auf fährlässige Tötung, ebenfalls als Unterlassungsdelikt. Dieser soll bei der Durchsuchung, so die Ermittlungsbehörde, das Feuerzeug mit dem Oury Jalloh, obwohl stark betrunken und an Händen und Füßen gefesselt, den Brand gelegt haben soll, übersehen haben.
Das Landgericht Dessau begründete die von vielen als skandalös beurteilte Verzögerung in dem Verfahren u. a. mit dem Bedarf zur Nachermittlung, ohne die eine Entscheidung über die Eröffnung der Hauptverhandlung unmöglich getroffen werden könne. Ein eingefordertes Gutachten, dass nochmals zeitliche Abläufe am Tage des Brandes in der Gewahrsamszelle im Keller des Reviers exakt nachvollziehen sollte, hat das sachsen-anhaltische Feuerwehrinstituts Heyrothsberge mittlerweile vorgelegt. Götz bezeichnet die Ergebnisse der Arbeit als „nicht so ergiebig“. Das Gutachten würde auf viele Fragen keine Antworten geben. „Es gibt einfach zu viele Variablen“, so die Nebenklagevertreterin. Doch eins sagt das Gutachten klar aus: Bei einer angemessenen und zeitnahen Reaktion wäre eine Brandbekämpfung, wenn auch mit Risiken für die handelnden Polizeibeamten, möglich gewesen. „Schließlich gab es ja eine ganze Reihe von Feuerlöschern auf dem Weg zur Zelle“, konstatiert Götz.
Noch ein weiteres Detail sorgte für Aufregung, vor allem bei den anwesenden Mitgliedern der afrikanischen Community. Götz berichtet, dass die Staatsanwaltschaft die Nebenklage mit Verweis auf die Strafprozessordnung von allen Brandnachversuchen und anderen Tests ausschloss. Als Mouctar Bah von der Deutsch-Afrikanischen Flüchtlingsinitiative dies übersetzt, gärt es im Raum. „Wir haben den Eindruck, dass das Gericht und die Staatsanwaltschaft unter einer Decke stecken und mit der Polizei zusammenarbeiten“, sagt Bah wenig später frustriert und will von Götz wissen, warum sie nicht selber ermittele. „Das kostet viele tausend Euro“, lautet die banale Antwort. Dennoch behält sich die Nebenklage vor, eventuelle weitere eigene Gutachten in Auftrag zu geben.
Podium und Publikum kommen enger ins Gespräch. Götz wirft die rhetorische Frage in den Raum, warum niemand die Hilfeschreie Oury Jallohs aus der Gewahrsamszelle Nr. 5 gehört habe. „Mittags um zwölf, das Revier war voll“, drückt Moderator Marco Steckel von der veranstaltenden Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt sein Unverständnis aus. Auch die generelle Praxis von Gewahrsamsnahmen durch die Polizei ist Thema. „Gerade wenn es zu keiner Hauptverhandlung oder sogar zu einem Freispruch der angeklagten Polizeibeamten kommen sollte, müsse das in einem öffentlichen und breiten Diskurs thematisiert werden“, findet Regina Götz.
„Wir haben von hier aus alles alleine gestemmt“, lautet die Antwort Steckels auf eine Frage aus dem Publikum, ob die Bundesregierung im Fall Jalloh unterstützend gewirkt habe. Kein Wort des Bedauerns sei von der großen Politik gekommen. Zwar habe das Land Sachsen-Anhalt die Kosten für die Überführung des Leichnams übernommen und der Innenausschuss im Magdeburger Landtag habe sich mehrmals damit beschäftigt. „Jedoch nur auf einer informellen Ebene“, wie der Opferberater hinzufügt.
Mouctar Bah denkt da schon viel weiter. Für den Januar 2007 kündigt er eine gemeinsame Interventionskampagne aller afrikanischen Botschaften in Berlin an: „Wir haben schon mit allen gesprochen“.
verantwortlich für den Artikel: Steffen Andersch Projekt gegenPart Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus Schlachthofstr. 25 06844 Dessau Tel./Fax: 0340/ 26 60 21 3 projektgegenpart@gmx.net www.projektgegenpart.org
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