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„Wer die Möglichkeit hat, geht hier weg“

Podiumsdiskussion zur Situation von Asylbewerbern




Fakt ist, die Zahl der Ausländer in Sachsen-Anhalt bleibt gering und sie kommen nicht freiwillig“, eröffnete Marco Steckel als Moderator eine Podiumsdiskussion zur Situation von Asylbewerbern provokant. Dass der Veranstaltung am 25. September im Multikulturellen Zentrum eine gehörige Portion Brisanz innewohnen würde, war vielen bereits im Vorfeld klar.

Steckel legt nach: „Wer die Möglichkeit hat, geht hier weg“. Damit meint der Mann von der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt die hohe Fluktuation der MigrantInnen im Land. Ohne die zentrale Zuweisung würde sich wohl kaum ein Flüchtling nach Sachsen-Anhalt verirren. Eigentlich kein Wunder: die Arbeitslosigkeit zu hoch, die Wahrscheinlichkeit Opfer einer fremdenfeindlichen Gewalttat zu werden zehn mal höher als beispielsweise in Nordrhein-Westfalen und keine funktionierenden Sozialstrukturen sprich Communitys. In diesem nicht gerade gesunden Klima verwundert es kaum, dass „Normalisierungsprozesse nur gebrochen stattfinden“, wie es Steckel leicht euphemistisch ausdrückte. Im „Zwang zur Nicht-Arbeit“, mit dem vor allem die Asylbewerber belegt seien, sieht er ein strukturelles Defizit. Auch die Regelung an Asylbewerber nur Gutscheine statt Bargeldleistungen auszuzahlen, sei Teil des Problems. Steckel plädiert für Selbstständigkeit, denn die „beuge Hospitalismus vor“. Auch wenn viele Ausländerfragen per Bundesgesetz geregelt werden, gibt es dennoch lokale Spielräume für Kommunen und Landkreise. Genau die will der Moderator zusammen mit seinen DiskutantInnen an diesem Abend ausloten.

Doch bevor es darum geht, versorgt der Psychologe und Politologe Tobias Pieper die immerhin 50 Interessierten mit zum Teil erschreckenden Fakten. Er hat über die Situation und Lebenswirklichkeit von Flüchtlingen und AsylbewerberInnen in so genannten Sammel- oder Gemeinschaftsunterkünften promoviert, kennt sich in der Materie also bestens aus.
Neben einer theoretischen und historischen Einordnung der Lagerunterbringung in der Bundesrepublik, wird der Referent schnell ganz konkret. Von „Kettenduldung“ ist da die Rede, ein Begriff den viele zum ersten Mal hören. Diese schiere Endlosschleife im deutschen Zuwanderungsrecht betrifft Leute, die aus verschiedensten Gründen nicht als Asylbewerber anerkannt, aber nicht sofort abgeschoben werden können.


Psychologe Tobias Pieper

Zur Zeit würden 500.000 Menschen in Gemeinschaftsunterkünften leben, die Pieper als Teil eines „dezentralen Lagersystems“ kategorisiert. „Ausreisezentrum“ ist ein Wort, dass eigentlich so harmlos klingt. Sachsen Anhalt hat auch eins. In Halberstadt. Letztlich ist diese Art der Unterbringung ein Ort zwischen Gemeinschaftsunterkunft und Abschiebeknast. Wie sehen die Lager eigentlich aus? Pieper muss es wissen und findet klare Worte. Meistens sind es heruntergekommene Plattenbauten im urbanen Raum: „Die liegen in Randgebieten oder sind gleich im Wald versteckt“. Die kulturellen und sozialen Partizipationsmöglichkeiten der Flüchtlinge sind dem zu Folge extrem eingeschränkt. Seit die meisten Einrichtungen privatisiert wurden, sind die ohnehin niedrigen Standards nochmals heruntergeschraubt worden. Sozialarbeiter sucht man so in den meisten Heimen vergeblich. Eine wichtige und dennoch nicht neue Erkenntnis gibt der Psychologe ebenfalls preis: „Die Heime im Osten sind leer“. Dies würde einerseits an der restriktiven Einwanderungspolitik liegen aber auch daran, dass viele der Flüchtlinge wegen der unerträglichen Lebensbedingungen und der fehlenden sozialen Kontakte die Woche über in westdeutsche Großstädte und Regionen fahren würden. Dort würden viele Asylbewerber zu acht Personen in einem Raum wohnen, dies aber immer noch angenehmer empfinden, als das Heimambiente. Am Sozialamtstag „sind die Lager voll“, beschreibt der Referent die fast schizophrene Lage. Piepers These, dass durch die Heimunterbringung Flüchtlinge abgeschreckt werden sollen, klingt da gar nicht so konstruiert. In der weltweit einzigartigen Residenzpflicht, die Flüchtlingen per Sanktion verbietet, ohne Antrag den ihn zugewiesenen Landkreis zu verlassen, erkennt er ein „Systemmerkmal“ der Lager. Die Leute würden so dezentral verteilt und lokal kontrolliert. Piper sieht darin ganz klar eine „institutioneller Entrechtung“ und „rassistische Ordnung“. Schon längst kein Geheimnis mehr, schon gar nicht für den Experten: 1-1,5 Millionen Flüchtlinge leben in der Bundesrepublik in irregulären Verhältnissen. Die Debatte um die so genannten Illegalen flammt je nach tagespolitischen Interessen immer mal wieder auf. „Warum macht der Staat das?“, wird die rhetorische Frage von Pieper schließlich in die Runde geworfen. Warum setzt der Staat weiterhin auf die Gemeinschaftsunterkunft, wo doch die dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen in Wohnungen wesentlich billiger wäre? Warum schwört der Staat in Zeiten leerer Kassen auf Sachleistungen, wo doch eine Bargeldausgabe günstiger ist?  Der Psychologe liefert die Antworten aus seiner Sicht gleich mit: „knallharte ökonomische Verwertungsinteressen“ und eine „nicht gewollte Integration“. Die finale These Piepers verwundert daher niemanden: „Die Lagerunterbringung produziert rassistische Bilder und verstärkt den entsprechenden Diskurs“.

Der Fokus des Landesflüchtlingsrates liegt derzeit auf den „Geduldeten“, also Flüchtlinge die aus dem Asylverfahren schon heraus gefallen sind: „Die sind oft hoffnungslos“, weiß Grit Gurol von der Initiative. In der Bundesrepublik haben ca. 230.000 MigrantInnen einen solchen Status, davon 5.300 in Sachsen-Anhalt. „Wir haben uns zum Ziel gemacht, diesen Menschen ein Gesicht zu geben“, so die Aktivistin zu geplanten Kampagnen. Grit Gurol hat eine Forderung an die Landesregierung mit im Gepäck: „Abschiebestopp!“. Im Zuge des neuen Zuwanderungsgesetztes wurde in Sachsen-Anhalt eine Härtefallkommission eingerichtet, die über bereits abgelehnte Asylverfahren entscheidet. In dieser sitzt Grit Gurol zusammen mit sieben weiteren KollegInnen. Wenn zwei Drittel des Gremiums positiv voten, wird der Fall dem Innenminister zur Entscheidung vorgelegt. Immerhin wären bisher 40% der  Entscheidungen zugunsten der Flüchtlinge gut ausgegangen.


Grit Gurol, Landesflüchtlingsrat Sachsen-Anhalt

Die Leiterin des Bürger- und Standesamtes Frau Dedecke wird vom Moderator gefragt: „Wie gestaltet die Stadt Dessau diesen Prozess?“. Marco Steckel meint damit die lokalen und kommunalen Spielräume bei der Ausgestaltung der „Ausländerangelegenheiten“, wie das Ressort im Amtsdeutsch heißt. „Solche Horrorsachen gibt es in Dessau nicht“, meint die Angestellte der Stadt. Von einer Überbelegung der Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft im Schwarzen Weg könne genau so wenig die Rede sein, wie von einer urbanen Unterbringung. Das Heim verfüge über eine gute Verkehrsanbindung und Sachleistungen hätte es in Dessau nie gegeben.

Andreas Schwierz, Ausländerbeauftragter der Stadt, bestätigt dies. So habe sich die Lebenssituation vieler Flüchtlinge in Dessau verbessert. Schwierz verweist dabei insbesondere auf die gute Zusammenarbeit mit den in Dessau ansässigen Wohnungsgesellschaften. Doch auch er muss in einem Punkt passen. Auf die Frage, ob die Stadt denn ein Integrationskonzept habe, muss er mit einem lapidaren „Nein“ antworten. Frau Dedecke kündigte für die Zukunft zudem an, dass Flüchtlingsfamilien mit Kindern schrittweise aus den Heimen in Privatwohnungen dezentral untergebracht werden sollen. Zweifellos ein Fortschritt, wie viele fanden.


Gerald Kohl und Amtsleiterin Dedecke

Wir als Polizei haben mit dem Asylverfahren eigentlich nichts zu tun“, sagt Dessaus Polizeirevierleiter Gerald Kohl. Wenn es aber zu einem Amtshilfeersuchen kommt, würden Beamte zusammen mit einem Mitarbeiter der Ausländerbehörde schon einmal eine Abschiebung durchführen und die Deliquenten zum Flughafen schaffen. „Für uns als Polizei ist die Integration von Ausländern wichtig“, so der Beamte und spricht sich vehement dagegen aus, MigrantInnen in Häusern unterzubringen, in denen kein Deutscher mehr leben möchte.

Viele Wortmeldungen und Fragen anwesender Flüchtlinge zeigten, was die oft zitierten lokalen Spielräume in der Praxis bedeuten. Während die Stadt Dessau die Residenzpflicht relativ großzügig auslegt, herrschen im Landkreis Anhalt-Zerbst offensichtlich ganz andere Verhältnisse. Von restriktiven, unzumutbaren und willkürlichen Regelungen berichten die Betroffenen. „Das ist zum Teil rechtswidrig“, äußert sich ein Experte im Saal und rät den Asylbewerbern, juristisch dagegen vor zu gehen. Einen zuständigen Vertreter aus der Verwaltung des Nachbarkreises sucht man in der Veranstaltung vergeblich.

Die interessieren sich nicht für Ausländer, die können ja alle abgeschoben werden“, so Razak Minhel sichtlich erregt in der Diskussion. Der Leiter des Multikulturellen Zentrums spielt mit diesem harten Urteil nicht zuletzt auf das Desinteresse der Kommunalpolitik an der Eröffnung der Woche des ausländischen Mitbürgers, in deren Rahmen auch die Podiumsdiskussion läuft, an. Auch Andreas Schwierz pflichtet dem zu: „Ich habe die Politik vermisst“.

Laut Minhel treibt unter den Flüchtlinge in Dessau zur Zeit ein Gerücht um und sorgt für erhebliche Verunsicherung: Die Gemeinschaftsunterkunft im Schwarzen Weg soll geschlossen werden. Frau Dedecke weiß von solchen Plänen nichts und der Ausländerbeauftragte sichert zu, der Sache nachzugehen.

  
Razak Minhel, Leiter des Multikulturellen Zentrums

Viele Deutsche diskutierten mal wieder über und nicht mit Flüchtlingen. Für viele im Raum die praktische Konsequenz einer verfehlten Integrationspolitik. Deutschkurse sind für Asylbewerber nicht vorgesehen.

verantwortlich für den Artikel:
Steffen Andersch
Projekt gegenPart
Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus
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06844 Dessau
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