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„Was willst Du wissen?“

Buchlesung „Nachtzug nach Piestany“ über das Schicksal der jüdischen Ärztin Miriam Litwin




Wo sind die zehn Jahre geblieben?“, fragte die Autorin Renate Gruber-Lieblich zu Beginn ihrer Buchlesung am 28. November 2006 im Dessauer Galeriecafe. Damit meinte sie vor allem das vergangene Jahrzehnt, in dem sie unermüdlich die Wittenberger Lokalgeschichte während der Zeit des Nationalsozialismus aufgearbeitet hat. Sie richtete diese Frage etwas scherzhaft aber auch an Hans Hunger vom Dessauer Bündnis gegen Rechtsextremismus, der moderierend durch den Abend führte. Auf Einladung der Initiative ist sie an die Mulde gekommen, um im Rahmen der Aktionswochen gegen Antisemitismus aus ihrer neusten Veröffentlichung „Nachtzug nach Piestany“ zu lesen und so über das Schicksal der jüdischen Ärztin Miriam Litwin zu berichten.


die Wittenberger Autorin Renate Gruber-Lieblich

Doch das Buch steht erst einmal nicht im Mittelpunkt der Veranstaltung. Vor genau zehn Jahren sorgte der Fall der ehemaligen KZ-Aufseherin Margot Pietzner aus Wittenberg für Schlagzeilen, mit dem Renate Gruber-Lieblich auch ganz persönlich in Berührung kam. „Hier haben Sie 120 Seiten Manuskript über mein Leben“, schildert Gruber ihre erste Begegnung mit Pietzner. Irgendwann habe eine ältere Dame ihr zu einer öffentlichen Lesung ihre Lebensgeschichte angeboten. Damals sei sie durchaus aufgeschlossen gewesen, sie kannte die Frau ja nicht. Das sollte sich schnell ändern. Margot Pietzner arbeitete von 1940 – 1943 als Sekretärin in den Arado-Flugzeugwerken bei Wittenberg. Als die Nationalsozialisten dort ein KZ-Außenlager errichteten, meldete sich Pietzner freiwillig als Aufseherin. Nach einer 14tägigen Ausbildung im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, aus dem auch die ersten 1200 Frauen nach Wittenberg überstellt wurden, kam sie in das Werk zurück. „Sie hätte da immer noch die Chance gehabt zu sagen: Ich kann das nicht!“, sagte die Autorin zur möglichen Option Pietzners. Doch die bewusste Entscheidung für die Laufbahn einer KZ-Aufseherin war die Regel. Renate Gruber hat damals mit Pietzner korrespondiert, ihr Manuskript gelesen und „irgendwie habe ihr die Frau leid getan“, wie sie heute noch einräumt. Der Hintergrund: Im August 1946 wurde Margot Kunz-Pietzner in Wittenberg von den Sowjets verhaftet. Man warf ihr vor, als Aufseherin im KZ-Nebenlager Rödernhof bei Belzig Häftlinge mißhandelt zu haben. Sie wurde von einem sowjetischen Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Die Strafe, später zu 25 Jahren Arbeitslager umgewandelt, verbüßte sie in verschiedenen Lagern und Gefängnissen, bis sie 1956 nach einer Amnestie frei kam.
Diese Emphatie allerdings sollte sich bald ins Gegenteil verkehren. Grubers Mann sei da schon skeptischer gewesen: „Das glaubst Du wohl?“, hatte er sie nicht nur einmal angesichts ihrer Naivität gefragt. Kurz nach ihrer Bekanntschaft mit der KZ-Aufseherin hat sie eine Lehrerin aus Witteberg über deren Vergangenheit informiert. Die Mutter der Pädagogin sollte ebenfalls für das Außenlager angeworben werden, ihr Mann habe ihr das aber ausreden können.


zahlreiche Gäste verfolgten interessiert die Buchlesung

Der eigentlichen Skandal um Margot Pietzner, war deren Anerkennung als „Opfer des Stalinismus“ und die damit verbundene Entschädigung in Höhe von 64.350 DM, die sie 1993 ausbezahlt bekam. Damit war sie der erste bekannt gewordene Fall einer ehemaligen KZ-Aufseherin, die nach der Wende eine Zahlung nach dem 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz erhielt. Der Entschädigungsfall Pietzner war schnell wie kaum ein anderer bearbeitet worden. Frau Pietzner hatte über ihr Schicksal in der Berliner "Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Stalinismus" berichtet.  Namhafte BürgerrechtlerInnen und der damalige Bundesjustizminister Klaus Kinkel verwendeten sich damals für sie, ohne allerdings von der SS-Tätigkeit Pietzners gewusst zu haben. 

Nachdem immer mehr Details über das brutale Regime Pietzners in den Lagern bekannt wurden, gab es dann eine bundesweite Kampagne gegen die Rehabilitierung. Schließlich entschied die zuständige Stelle 1996, dass die SS-Aufseherin die Entschädigung zurückzahlen muss. Da war von dem Geld allerdings nichts mehr viel übrig. Für persönliche Hilfe wie bei der Wohnungsrenovierung schenkte Margot Pietzner der damaligen Gedenkbibliotheks-Leiterin Ursula Popiolek 20 000 Mark, Siegmar Faust erhielt 7 000 Mark. „Mir wird heute noch ganz übel“, sagt Gruber-Lieblich angesichts dieser Geschichte sichtlich berührt.

Der Zusammenhang zwischen der Jüdin Miriam Litwin und der deutschen KZ-Aufseherin Margot Pietzner ist ein unauslöschlicher Teil der Wittenberger Lokalgeschichte: Das KZ-Außenlager der Arado-Flugzeugwerke. Während Miriam Litwin aus Lodz dort als Häftlingsärztin ohne Namen der Willkür der Wachmannschaft ausgesetzt war, war Pietzner aktiver Teil des unmenschlichen NS-Terrors.

Kaum fassbar aber wahr, im nationalsozialistischen Deutschland hat es insgesamt 10.000 KZ-Außenlager gegeben. Viele von diesen arbeiteten für die Rüstungsindustrie. Wie der Wittenberger Betrieb, der übrigens enge Geschäftsbeziehungen zu den Junkers-Flugzeugwerken in Dessau unterhielt. Die durchschnittliche Lebensdauer eines Häftlings in diesen Nebenlagern betrug gerade einmal 9 Monate: „Vernichtung durch Arbeit“. Wie die meisten wusste Renate Gruber bis zur Wende nichts von der Existenz der Arado-Werke und der dortigen Verbrechen: „Das war ein totgeschwiegenes Kapitel zu DDR-Zeiten“, kritisiert die Autorin nicht ohne Verbitterung. Die Geschehnisse in solchen Lagern seien überhaupt kein Thema gewesen, „in Ost und West“, wie sie hinzufügt. Die Ignoranz und das Verdrängen waren total: „Das lag wie ein großes Geheimnis über der Stadt“, beschreibt die Autorin die Amnesie der Wittenberger Bevölkerung.

Bei ihren Recherchen über das Außenlager findet Gruber u. a. Belege dafür, dass insgesamt 34 jüdische Frauen dort eingepfercht waren. Dass Schicksal Miriam Litwin interessierte sie dabei besonders. Über eine Anfrage beim Zentralrat der Juden in Deutschland erfährt sie schließlich, dass Frau Litwin die Qualen überlebt hat und in Israel wohnt. Von Anfang an plagen sie Zweifel, ob sich eine Deutsche in das Schicksal einer Jüdin einmischen dürfen, „vor allem weil die Kleinstadt Wittenberg das alles 50 Jahre verschwiegen hat“, zitiert sie aus ihrem Buch. Schließlich entschließt sie sich doch, Miriam Litwin einen Brief zu schreiben. Die erste Reaktion sei „etwas kühl gewesen“. Einige Zeit später bot ihr die Holocaustüberlebende an, sie doch im slowakischen Kurort Piestany zu treffen. Sie trafen sich dort einige Sommer regelmäßig. An eine Begegnung mit Miriam Litwin erinnert sich Gruber noch genau. Es war ein Sparziergang im Park und die rüstige und agile Frau fragte unvermittelt: „Was willst Du wissen?“. Aus den intensiven Gesprächen und dem langsam wachsenden Vertrauen entstand schließlich das Buch „Nachtzug nach Piestany“. Miriam Litwins Lebensstationen werden beschrieben. Geboren im polnischen Lodz, studiert sie von 1932-1938 im italenischen Pisa Medizin. Der Grund für das unfreiwillige Exil: Der überbordende Antisemitismus in Polen. Juden war es nicht mehr möglich, ein medizinisches Hochschulstudium aufzunehmen. Nach der Rückkehr in ihre Heimatstadt wurde sie nach dem deutschen Überfall auf Polen zusammen mit ihrer Familie in das Ghetto Litzmannstadt gesperrt. Von dort wurde sie im offenen Viehwaggon nach Ravensbrück verschleppt. Nach einem kurzen Aufenthalt, kam sie ins KZ-Außenlager der Arado-Flugzeugwerke. Fünf Geschwister Miriam Litwins und ihre Eltern haben den Holocaust nicht überlebt. Nach ihrer Befreiung ging sie zurück nach Lodz, wo sie ihren schon totgeglaubten Mann wieder traf. Ihr verwundeter Gatte, der u.a. die Barbarei im Konzentrationslager Buchenwald überstanden hatte, war in einem erbärmlichen Zustand. Sein Leben lang litt er an den psychischen Folgen der KZ-Haft und sprach nie über seine Lagerzeit. „Wer überlebt hat, hat die Pflicht zu leben“, zitiert Gruber einen Satz Miriam Litwins, den sie angesichts der Suizidgedanken ihres Mannes einmal geäußert hat.

Miriam Litwin arbeitete bis 1957 in einem jüdischen Krankenhaus in Lodz, bis sie der Antisemitismus schließlich wieder einholte. „Ich bin da auf eine erschreckende Weise auf den polnischen Antisemitismus gestoßen“, beschreibt Gruber ihre Rechercheergebnisse. Nach antijüdischen Pogromen in den 1950iger Jahren verließen insgesamt 60.000 Juden das sozialistische Polen. Auch Miriam Litwin ging nach Israel. „Eigentlich ist Polen heute judenfrei“, konstatiert die Wittenberger Autorin.                              

Die Schreibweise Renate Grubers mutet zunächst etwas ungewöhnlich an. Ihr Ansatz ist nicht unumstritten. In ihrem Buch steht nicht nur die Lebensgeschichte der jüdischen Ärztin im Mittelpunkt, sondern auch die Spurensuche und die kleinen Geschichten und Anekdoten, die diese mit sich bringt. Die Autorin lässt den Leser an ihren ganz persönlichen Befindlichkeiten und dem privaten Verhältnis zu Miriam Litwin teilhaben. Es ist ein schmaler - und oft auch leicht irritierender – Grad, zwischen einer emotionalen Betrachtungsweise und dem Vermitteln historischer Fakten. 

verantwortlich für den Artikel:
Steffen Andersch
Projekt gegenPart
Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus
Schlachthofstr. 25
06844 Dessau
Tel./Fax: 0340/ 26 60 21 3
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