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„Das Schicksal der Menschen die in die Gaskammern gingen, ließ ihn gleichgültig“

am 27. Januar 2007 begingen 150 Gäste den Holocaust-Gedenktag in Bernburg//Überlebender Jules Schelvis als Ehrengast




Mit so vielen Gästen hätte die Gedenkstätte für die Opfer der NS-“Euthanasie“ in Bernburg am 27. Januar 2007 wahrlich nicht gerechnet. Fast 150 Besucher wohnten der zentralen Veranstaltung anlässlich des Holocaust-Gedenktages in Sachsen-Anhalt bei. Der Saal konnte die Interessierten nicht fassen, zahlreiche BürgerInnen verfolgten das 75minütige Programm vom Flur aus. Das gesteigerte Interesse rührte wohl auch daher, dass sich zeitgleich das Bernburger Bündnis für Demokratie und Toleranz – gegen Rechtsextremismus und Gewalt“ öffentlich gründete (mehr dazu hier...).

Unter den Augen zahlreicher lokaler Honoratoren, so waren der Bernburger Oberbürgermeister Helmut Rieche (CDU), der Landrat Ulrich Gerstner (SPD) und zahlreiche Stadträte anwesend, eröffnete die Gedenkstättenleiterin Ute Hoffmann die Veranstaltung. „Als ich das erste Mal ihre Geschichte gehört habe, war ich stark beeindruckt“, begrüßt sie den Ehrengast und Holocaustüberlebenden Jules Schelvis. Der Niederländer, der u. a. das deutsche Vernichtungslager Sobibor überlebt hat, forscht und publiziert seit Jahren, insbesondere zu den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“.

Sie gehörten nicht zur Volksgemeinschaft“, sagt Rüdiger Erben, Vertreter der Landesregierung und Staatssekretär im Magdeburger Innenministerium, angesichts der 14.000 Menschen, die in der Gasmordanstalt Bernburg von den Nazis umgebracht wurden. Die Euthanasie der Nationalsozialisten hätte zwar an bereits im 19. Jahrhundert entwickelte biologistisch-rassistische Menschenbilder angeknüpft, „die Verfolgung in staatlicher Regie war aber eine neue Qualität“, stellt der Politiker den singulären Charakter der NS-Verbrechen klar. Erben konfrontiert die Gäste mit Einzelschicksalen. Eine verschmähte Liebe und die darauf folgende psychische Erkrankung konnte ausreichen, um  in die NS-Kategorie „lebensunwertes Leben“ zu landen, dann zwangssterilisiert zu werden und schließlich qualvoll in der Gaskammer zu enden. So geschehen mit der Magdeburgerin Else R., die 1941 in Bernburg ermordet wurde.

Der Staatssekretär plädiert dafür, sich intensiver mit den Tätern zu beschäftigen: „Diese Aufarbeitung ist dringend erforderlich“. Besonders die morderprobten Männer aus den Gasmordanstalten müssten noch mehr in den Fokus der historischen Forschung gelangen. Eben diese Täter waren es, die später in dem größten NS-Vernichtungsprogramm, dass die Nazis unter der Tarnbezeichnung „Aktion Reinhardt“ generalstabsmäßig planten und durchführten (mehr dazu hier...), für den Tod von 1,3 Millionen verantwortlich zeichneten. „Auf ihrer Seite lag die Handlungsebene. Sie hatten die Wahl.“, sagte Erben und erteilte der oft kolportierten und mittlerweile widerlegten These vom Befehlsnotstand eine klare Absage. Bei den Tätern hätte es sich um ganz normale Deutsche gehandelt, die sich ganz bewusst für diese Verbrechen entschieden hätten, um Karriere zu machen oder dem Fronteinsatz zu entgehen. „Es waren keine Sadisten sondern Menschen aus der Mitte der Gesellschaft“, widerspricht Erben vehement der Mär von den geistesgestörten Einzeltätern.


Staatssekretär Rüdiger Erben

 „Ich komme von weit her, aber eigentlich ist das nicht der Platz, wo ich jetzt sein sollte“, sagt der 86jährige Jules Schelvis. Der Niederländer meint damit die alljährlich stattfindende Gedenkveranstaltung in Amsterdam, bei der er sonst nie fehlt. Der Holocaustüberlebende, der u.a. die deutschen Vernichtungs- und Konzentrationslager Westerbork, Sobibór und Auschwitz überlebt hat, spricht heute nicht explizit als Zeitzeuge, sondern als Historiker und Publizist. Von der Moderation erfahren die Gäste dennoch einige Details seines Lebensweges (mehr dazu hier...). Mit seiner Frau Rachel, mit der er erst kurz verheiratet war, wurde Jules zusammen mit anderen Familienangehörigen am 04. Juni 1943 in das Vernichtungslager Sobibór deportiert. Seine geliebte Gattin wurde weniger Stunden nach der Ankunft dort vergast.


Holocaustüberlebender Jules Schelvis

Auch deshalb hat sich Jules Schelvis diesmal auf einen Vortrag über die Täter eingestellt: „Einen von ihnen möchte ich dabei herausnehmen“.

Es geht um Karl August Wilhelm Frenzel. Der SS-Mann verkörpert wie kaum ein anderer Täter die unmittelbare Verbindung von Bernburg zu den Todesfabriken der „Aktion Reinhardt“. „Frenzel war ein autoritärer Mann“, charakterisiert Jules Schelvis den Sohn eines Bahnarbeiters, der 1911 im Brandenburgischen Havel geboren wurde. In Grünberg (Kreis Ruppin verbrachte er seine Kindheit. Der Vater, Sozialdemokrat und Abgeordneter des Kreistages, bekehrte sich 1933 zum Nationalsozialismus. Nach einer Lehre zum Zimmermann trat Frenzel am 01. August 1930 der NSDAP bei. Kurz danach verschaffte er sich in einer SA-Uniform eine Stelle als Hilfspolizist. Er wurde SA-Führer und arbeitete bis 1935 in einer Munitionsfabrik. Bereits im Dezember 1939 quittierte er seinen Dienst in der Wehrmacht. Frenzel war in Polen stationiert und konnte als Vater von fünf Kindern ohne Probleme von diesem Privileg Gebrauch machen. Wegen seiner frühen Parteizugehörigkeit zeichnete ihn Hitler persönlich mit dem Ehrendolch aus. Von da an ging es für den Karrieristen steil bergauf. Im Januar 1940 meldete sich Frenzel zu einem Sondereinsatz in der Villa Tiergarten Strasse Nr. 4 in Berlin. Gemeinsam mit anderen willigen und überzeugten Vollstreckern wurde er in die Bedeutung und Methoden des „NS-Euthanasieprogramms“ (Tarnbezeichnung „T4“, nach dem Hauptsitz in der Villa Tiergarten Strasse Nr. 4 in Berlin) eingewiesen, dass die Ermordung von Geisteskranken und Behinderten im Deutschen Reich regelte. Frenzel entwickelte in dieser Mordtätigkeit von nun an eine erstaunliche Kreativität. Frenzel kam zunächst in die spätere Gasmordanstalt Graveneck und wurde dort Wachmann. Die nächste Station seiner Verbrecherkarriere: Bernburg. Später arbeitete als Brenner und „Desinfektor“ in der Krankenanstalt Hadamar, die so umgebaut wurde, dass die Tötung von Menschen in Gaskammern durchgeführt werden konnte. 1941 kam er erneut nach Bernburg zurück, um die Spuren des inzwischen gestoppten „T4-Programms“ zu beseitigen. Zusammen mit seinen Kollegen aus den anderen Gasmordanstalten wurde er im April 1942 in den Raum Lublin versetzt. Die morderprobten Männer sollten im Osten die „Endlösung der Judenfrage“ in die Tat umsetzen. Frenzel kam ins Vernichtungslager Sobibór und  nahm dort bis zur Liquidierung des Lagers, das auf Grund eines Häftlingsaufstandes aufgelöst wurde, eine aktive Rolle beim Massenmord an den europäischen Juden ein. „Das Schicksal der Menschen die in die Gaskammern gingen, ließ ihn gleichgültig“, fällt Jules Schelvis sein Urteil über Frenzel.

Frenzel war einer der wenigen NS-Täter, der sich für seine Verbrechen juristisch verantworten musste. Am 20. Dezember 1966 verurteilte ein Schwurgericht in Hagen Frenzel wegen Mittäterschaft am Tod von mindestens 151.000 Juden und in sechs Fällen wegen nicht befohlenen Mordes an 9 Juden zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Zehn Jahre später wurde  Frenzel vorzeitig aus dem Gefängnis, kam aber am 05. Mai 1980 für 16 Monate erneut in Haft. Am 04. Oktober 1985 wurde es in einem Revisionsverfahren erneut  zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Der Bundesgerichtshof bestätigte  zwei Jahre später dieses Urteil. Frenzel jedoch blieb auf freiem Fuß, da ihm in „seinem desolaten Gesundheitszustand“ eine Haft nicht mehr zu zumuten wäre, wie die zuständige Strafkammer damals feststellte.

Menschen wie Jules Schelvis ist es zu verdanken, dass die NS-Täter, ganz wie vom Staatssekretär Rüdiger Erben eingefordert, mehr und mehr ins Licht der öffentlichen Betrachtungsweise rücken.  Der Holocaustüberlebende hat mit seinem als Standardwerk gehandelten Buch „Vernichtungslager Sobibór“ einen nicht unwesentlichen Anteil daran.        

Begleitet von andächtiger Musik und einer Dia-Show, schloss eine szenische Lesung, umgesetzt von SchülerInnen des Köthener Gymnasiums „An der Rüsternbreite“, die Veranstaltung ab. Dieser Programmpunkt bewegte viele der anwesenden Gäste besonders. Und das die 10 jugendliche AkteurInnen eine ganz persönliche Verbindung zu den zitierten Texten hatten, war offensichtlich.  
Die Schüler hatten Jules Schelvis im Herbst 2005 kennen gelernt. Damals fand ein Zeitzeugengespräch mit ihm an ihrem Gymnasium statt, was zum Auslöser eines langfristigen Projektes wurde. Eine Lehrerin organisierte gemeinsam mit dem Alternativen Jugendzentrum Dessau eine einwöchige Bildungsfahrt nach Lublin, an der 19 Schüler freiwillig teilnahmen. Es wurden die Gedenkstätten Majdanek, Belzec, Sobibor und Treblinka besucht. Vorbereitend waren die Jugendlichen in der Gedenkstätte Bernburg. Dort begannen sie mit der Recherche zu den Tätern, die zunächst in Bernburg und später in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“ töteten. Selbstverständlich schloss das damalige Projekt auch die Opfer ein.

Eben diese Zusammenstellung aus den im Bürokraten-Deutsch verfassten Berichten der Täter, den persönlichen Erinnerungen der Opfer und der Leidensgeschichte Jules Schelvis, belegte eindrucksvoll die barbarischen Realität im NS-Terrorregime.


zahlreiche Initiativen, Verbände und Parteien gedachten der Opfer des Nationalsozialismus

Das die SchülerInnen in ihrem Engagement mehr als ein Projekt sahen, belegte letztlich auch eine Begegnung mit Jules Schelvis, die nicht zum offiziellen Programm gehörte. Am darauf folgenden Sonntag luden sie den Klassikliebhaber zur Stadtführung unter dem Motto „Auf den Spuren Bachs in Köthen“ ein. Anschließend ging es zum gemeinsamen Essen, was sich bis in die Abendstunden hinzog. Es war zu spüren, dass sich die Motivation der Schüler für den letzten Teil des Projektes, in dem es um die Erarbeitung einer Ausstellung geht, noch erhöhte.

Jules Schelvis weilte noch bis zum 01. Februar 2007 auf Einladung des Alternativen Jugendzentrums in Dessau und führte Zeitzeugengespräche mit jungen Menschen in Magdeburg, Halle und Roßlau.

verantwortlich für den Artikel:
Steffen Andersch
Projekt gegenPart
Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus
Schlachthofstr. 25
06844 Dessau
Tel./Fax: 0340/ 26 60 21 3
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