Projekt Gegenpart Projekt Gegenpart
 
Der antirassistische Newsletter für Dessau und Umgebung
Ausgabe 47 - 10. November 2007
Ausgabe 46 - 22. Oktober 2007
Ausgabe 45 - 06. September 2007
Ausgabe 44 - 13. Juli 2007
"Das hat es bei und nicht gegeben! - Antisemitismus in der DDR" - Ausstellungseröffnung in Dessau
Ausgabe 43 - 27. April 2007
Ausgabe 42 - 23. März 2007
Ausgabe 41 - 20. Februar 2007
Ausgabe 40 - 23. Dezember 2006
Ausgabe 39 - 07.Dezember 2006
Eröffnung der Aktionswochen gegen Antisemitismus 2006 in Dessau
Ausgabe 38 - 07. Oktober 2006
Ausgabe 37 - 13. September 2006
Ausgabe 36 - 23. Juni 2006
african kick - das etwas andere Fussballturnier
Ausgabe 35 - 09. Juni 2006
Ausgabe 34 - 29. April 2006
Ausgabe 33 - 23. April 2006
Ausgabe 32 - 31. März 2006
Ausgabe 31 - 16. März 2006
Ausgabe 30 - 06. Februar 2006
Ausgabe 29 - 14. Januar 2006
Ausgabe 28 - 19. November 2005
Ausgabe 27 - 19. Oktober 2005
Ausgabe 26 - 22. September 2005
Ausstellung - Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma
Ausgabe 25 - 25. August 2005
Ausgabe 24 - 12. Juli 2005
african kick - das etwas andere Fußballturnier
Ausgabe 22 - 19. Mai 2005
Ausgabe 21 - 29 März 2005
Ausgabe 20 - 16 Februar 2005
Ausgabe 19 - 17 Januar 2005
Archiv
Das Internetportal für Dessau und Umgebung
Veranstaltungtips
Die Chronik >Sagt nicht, Ihr hättet von nichts gewußt!<

Fahrt zu den Orten der Vernichtung

Bildungsreise nach Lublin/Majdanek, Sobibor und Auschwitz-Birkenau




Mit einem erholsamen Kurzurlaub hatte die Fahrt des Alternativen Jugendzentrums nichts gemein. Das wussten die 17 Teilnehmer aus Sachsen-Anhalt, unter ihnen drei freie Mitarbeiter von Gedenkstätten  und zwei angehende LehrerInnen, bereits im Vorfeld und hatten sich ganz bewusst dafür entschieden. Mit Lublin/Majdanek, Sobibor und Auschwitz-Birkenau führte die Bildungsreise gleich zu drei Orten ehemaliger deutscher Vernichtungs- und Konzentrationslager in Polen. Dass viele der Jugendlichen und jungen Erwachsenen über zum Teil schon erhebliches Vorwissen hinsichtlich der nationalsozialistischen Verbrechen verfügte, tat der Informations- und Faktenvermittlung dabei keinen Abbruch, sondern war von den OrganisatorInnen so gewollt. Das Programm der insgesamt sieben Tage war dicht gestaffelt und dennoch abwechslungsreich.  Unterschiedlichste Präsentationsformen und eine ganze Palette von methodisch-didaktischen Gestaltungen sorgte dafür, dass Langeweile oder ein Gruppenkoller sich erst gar nicht einstellen konnten. Zeitzeugengespräche, Führungen, Filme, eine Gedenkveranstaltung und interkulturelle Begegnungen standen im Mittelpunkt und machten das Projekt letztlich zu einem vollen Erfolg.


Führung über das Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers Birkenau


das Lagertor in Auschwitz-Birkenau

Lublin – Altstadtflair, Konzentrationslager und das verschwundene jüdische „Oxford“

Lublin, die 360.000-Einwohnerstadt in Westpolen, bot das Kontrastprogramm, was für die weitere Reise so typisch sein sollte. Die Provinzhauptstadt mit ihrem einzigartigen Altstadtflair hatte es den Teilnehmern auf Anhieb angetan. Liebe auf den ersten Blick. Ein Gesamtkunstwerk aus verwinkelten Gassen, dem postsozialistischen Erbe unsanierter Bürgerhäuser und perfekt rekonstruierter Bauten. Doch schon die ehemalige Burg im Stadtzentrum, die während des nationalsozialistischen Terrorregimes als Gestapogefängnis diente, zeigte die grausame von Deutschen zu verantwortende, Geschichte der Stadt.


verwinkelte Gassen in der Lubliner Altstadt


sanierte Bürgerhäuser in der Innenstadt

I
m Lubliner Stadtteil Majdan Tatarski wurde im Juli 1941 auf Anweisung des Reichsführers SS, Heinrich Himmler, das Konzentrationslager Majdanek errichtet. Das Lager sollte insgesamt 250.000 Häftlinge fassen. Nur wenige Wochen nach Errichtung wurde Majdanek als Konzentrationslager (KL) bezeichnet. Danach wurde es bis 1943 als „Kriegsgefangenlager“ geführt, bis schließlich wieder offiziell von einem KL die Rede war.  Trotz dieser semantischen Spitzfindigkeiten der Nationalsozialisten funktionierte Majdanek zu allen Zeiten als Konzentrationslager: mit dem unmenschlichen Terrorregimes der SS, der Vernichtung durch Arbeit, dem Tod durch unerträgliche Lebensbedingungen und willkürlichen Morden. Ab Mitte 1942 war Majdanek auch Vernichtungslager. Vor allem Juden aus Polen, auch die aus der Region Lublin, wurden in den Gaskammern systematisch ermordet. Das Lager war Teil der „Aktion Reinhardt“. Unter dieser Tarnbezeichnung wurden alle Juden aus dem Generalgouvernement ermordet. Vom 02. bis zum 03. November 1943 wurden im Lager allein 18.000 Juden aus dem Distrikt Lublin durch Massenerschießungen liquidiert. Dieser Massenmord lief unter der an Zynismus nicht mehr zu überbietenden Bezeichnung „Erntefest“ ab.


Mahnmal für die Opfer der Aktion "Erntefest"


die Lagerstrasse im ehemaligen Konzentrationslager Majdanek


auf dem Gelände der Gedenkstätte Majdanek

Die Gruppe hatte das große Glück, bei allen Stationen in Lublin von Wieslaw Wysok begleitet zu werden. Dem Mitarbeiter der Gedenkstätte Majdanek merkte man schon bei der ersten Begegnung an, dass er die Führungen nicht als Job begriff, sondern die Vermittlung über das Wissen der deutschen Verbrechen für ihn eine Mission war. Der von ihm geleitete Rundgang über das Gelände des ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek stand exemplarisch für diese Wahrnehmung. Dabei entfachten sich zum Beispiel Debatten über moderne Gedenkstättenpädagogik, den aktuellen Antisemitismus in Deutschland und Polen und die Abhängigkeiten von Gedenkstättenarbeit hinsichtlich tagespolitischer Anforderungen. Von der Kompetenz und der Erfahrung Wieslaw Wysok profitierte so das ganze Projekt.


Wieslaw Wysok führt die Teilnehmer über die Gedenkstätte 

Auf dem alten jüdischen Friedhof in Lublin: Grabsteine liegen verstreut auf dem Gelände. In manchen sind große Löcher, andere sind zertrümmert. Auch hier haben die Deutschen ganze Arbeit geleistet und ihren Wahn noch an den Toten ausgelassen. Viele der Platten wurden zum Bau des nahe gelegenen Konzentrationslagers Majdanek verwendet. Wieslaw Wysok weiß auch hier viel zu berichten. Darüber, wie viele Juden das kulturelle und künstlerische Leben Lublins bereichert haben. Über die weltberühmten Talmudgelehrten, die der Stadt den Beinamen „jüdisches Oxford“ einbrachten. Über den Seher von Lublin, bei dem die Leute Schlange standen, um sich die Zukunft prophezeihen zu lassen. Eine richtige Touristenattraktion sei er gewesen. „Alles weg und verschwunden,“ konstatiert Wysok. Der neue jüdische Friedhof, von Überlebenden als Ort der Erinnerung angelegt, hat nur wenige Gräber. Juden gibt es heute in der Stadt nur noch eine Hand voll.


Eingang zum alten jüdischen Friedhof in Lublin


zerstörter Grabstein


der neue jüdische Friedhof in Lublin

Zeitzeugengespräch mit Ewa Walecka-Kozlowska 

Für einige Teilnehmer war die Begegnung und das Zeitzeugengespräch mit Ewa Walecka-Kozlowska ein Wiedersehen. Die Überlebende von Majdanek und Ravensbrück weilte auf Einladung des Alternativen Jugendzentrums schon mehrmals in Dessau und anderen Städten Sachsen-Anhalts. In eindrucksvollen Worten berichtete sie aus ihrem Leben (mehr dazu hier...). Da die Gruppe neben dem Gespräch zwei Abende mit Ewa verbrachte, entwickelten sich intensive Gespräche. Dabei interessierte sich die Zeitzeugin vor allem für das Engagement einiger Teilnehmer im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus in der Bundesrepublik, aber auch für die persönlichen Lebenswege der Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Gedenkveranstaltung zum 64. Jahrestag der Liquidierung des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau

Eine der Höhepunkt des Programms war zweifellos die Teilnahme an der Gedenkveranstaltung anlässlich des 64. Jahrestages der Liquidierung des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau. In Birkenau gab es einen speziellen Lagerabschnitt für diese Menschen. Der berüchtigte SS-Arzt Josef  Mengele betrieb dort seine perfiden Menschenversuche im Dienste der sogenannten „Rassenlehre“.


Gäste der Gedenkveranstaltung


VertreterInnen der Sinti und Roma legen Kränze nieder

An der Gedenkveranstaltung nahmen mehrere Hundert Sinti- und Romafamilien teil, die in Auschwitz Familienangehörige verloren hatten. Die Veranstaltung war geprägt von Redebeiträgen Überlebender und von Wortmeldungen zahlreicher Honoratoren des polnischen Staates und anderer Länder.

Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, dankt in seiner Rede vor allem den überlebenden Sinti und Roma, die den Weg zum Ort ihrer einstigen Leiden gefunden haben:„Wir gedenken heute der 2900 unserer Menschen, die vor 62 Jahren von der SS ins Gas getrieben wurden. Wir erinnern uns ihrer Ängste, ihres Todeskampfes und all dessen, was die Menschen in solchen Stunden erleben“.
Vehement betont er im Namen der in der Bundesrepublik lebenden Sinti und Roma, dass sich Geschichte in Form eines solchen Völkermordes nicht wiederholen dürfe:„Dafür tragen die Regierungen der Welt die Verantwortung“. 
In einem aktuellen Appell an Europa und die Vereinigten Staaten fordert Romani Rose eindeutig und entschlossen, „dass der von Rechtsextremisten und Neonazis täglich betriebene Rassismus im Internet beendet wird“.


Romani Rose spricht

Auf  Franz Rosenbach, einem überlebenden Sinto, der 1945 in der Nähe Dessaus vor der SS flüchten konnte und einige Zeit in Sollnitz verbrachte, freuten sich schon einige Teilnehmer. Seit das AJZ im September 2005 die Ausstellung „Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti und Roma“ in Dessau präsentierte, ist eine enge Freundschaft mit Franz gewachsen. Auch er stand der Gruppe für ein Zeitzeugengespräch zur Verfügung (mehr dazu hier...).


Überlebender Franz Rosenbach (l) erweist den Opfern die Ehre

Zu Silvio Peritore, einem Mitarbeiter des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg, bestehen seit Jahren enge Arbeitskontakte, die sich ebenfalls schnell zu einer Freundschaft entwickelten. So führte Herr Peritore die Gruppe kompetent durch die Ausstellung im Stammlager Auschwitz, die über den Genozid der Sinti und Roma informiert.


Franz Rosenbach führt die Gruppe im Stammlager Auschwitz

Als besonderen Vertrauensbeweis und Würdigung des Engagments des Alternativen Jugendzentrums, wurde die Einladung Herrn Kwiatkowskis empfunden. Er hatte die Delegation zu einem geselligen Beisammensein, an dem auch zahlreiche Überlebende und deren Familien teilnahmen, in seinen Garten gebeten.

Tief bewegte uns auch die Danksagung, die Romani Rose an das Alternative Jugendzentrum richtete.

„Wir waren doch tote Menschen“
Zeitzeugengespräch mit dem Holocaustüberlebenden Henryk Mandelbaum

Die Szenerie ist irreal und eigentlich nicht zu begreifen. Henryk Mandelbaum (Jahrgang 1922) läuft über die Ruinen der Gaskammern von Auschwitz-Birkenau und beschreibt den Teilnehmern der Bildungsfahrt im Detail seinen ehemaligen Arbeitsplatz. Der polnische Jude war im Vernichtungslager dem so genannten „Sonderkommando“ zugeteilt. Diese Häftlinge waren unmittelbare Zeugen des deutschen Massenmordes. Sie mussten die Opfer auf ihrem Weg in die Gaskammern begleiten, sie beruhigen. Später, nach dem Tod durch das in Dessau produzierte Giftgas Zyklon B, waren sie für die materielle Verwertung und Entsorgung der Leichen zuständig. Die durchschnittliche Lebensdauer eines Häftlings im Sonderkommando betrug nur wenige Wochen. Dann wurden sie als Zeugen des singulären Menschheitsverbrechens von der SS ermordet. Als Mensch der über die ökonomische Rationalität und das technische Funktionieren der deutschen Todesfabrik Birkenau Auskunft geben kann, ist er nicht nur für die zahlreichen Gruppen, die er trotz seines hohen Alters immer noch begleitet, unverzichtbar, sondern auch ein authentischer Partner der historischen Forschung.


die Teilnehmer am Krematorium III

Sie wollen wissen was hier vor 64 Jahren war? Es war schrecklich“, beginnt der 86jährige seine Führung am Krematorium 2. Zusammen mit dem baugleichen und ebenfalls unterirdisch angelegten Komplex des Krematoriums III bezeichnet Henryk Mandelbaum die Bauwerke der Vernichtung als „Zwillinge“. In eindrucksvollen Worten schildert er den ganzen Terror und das Elend vor der Ermordung in den Gaskammern: die unmenschlichen Bedingungen während der zumeist tagelang dauernden Transporte in den Güterwagons, denen schon viele Menschen vor Hunger, Krankheiten oder Durst zum Opfer fielen, dann die Selektion an der Rampe, bei der SS-Ärzte mit einem Fingerzeig über sofortigen Tod oder vorläufiges Weiterleben als Arbeitssklaven hunderttausender Menschen entschieden.


Henryk Mandelbaum erläutert die Details der Vernichtung

Hier war der Entkleidungsraum“, deutet er auf ein kaum noch zu erkennendes Areal in den Ruinen des Krematoriums II. In diesem Bereich mussten sich die Opfer entkleiden und ihre Habseligkeiten an Hacken hängen. Um einen reibungslosen Ablauf der Vergasung zu gewährleisten und  die Menschen zu beruhigen, befahl die SS dem Sonderkommando die Häftlinge darauf hinzuweisen, dass sie sich die Nummern der Hacken zu merken hätten, um später die Kleidung wieder zu finden. Gerade bei größeren Transporten habe die Kapazität der Aufhänger nicht ausgereicht. „Da legten die Leute die Sachen auf den Boden“, erinnert sich der Überlebende.


der Holcaustüberlebende berichtet

Danach wurden die Opfer in die eigentliche Gaskammer, im SS-Jargon „Waschraum“ genannt, gepfercht und geprügelt. „Viele Leute im Waschraum haben gemerkt, dass da zu viele Leute drin sind“, spricht er über die Ängste, die er damals in vielen Gesichtern sah. „Hier kam das Zyklon B rein“, zeigt Herr Mandelbaum auf die Gaskammer. Nach jeder Selektion an der Rampe kam ein Rotkreuzwagen zum Krematorium gefahren, der das Giftgas möglichst ohne Aufsehen zu den Vernichtungskomplexen brachte. Nach der Abriegelung der Kammer und dem Einwurf des Zyklon B durch die SS trat der Tod nach 20-25 Minuten ein. „Das waren schreckliche Schmerzen, die Menschen sind im Stehen gestorben. Die Leute hatten sich erbrochen und waren voller Blut“, schildert er die entsetzlichen Szenen, die er nach der Öffnung des Todesraumes mit ansehen musste.

Liebe Leute“, setzt Henryk Mandelbaum zum nächsten Satz an, wobei man merkt, dass ihm die Sprache der Täter noch heute nicht leicht über die Lippen geht: „Ich sage die Wahrheit, das wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht.“

Bevor die Leichen in den Öfen verbrannt wurden, erfolgte die Verwertung der toten Körper. Das Sonderkommando musste die Haare abschneiden, Goldzähne ausbrechen und unter der Kontrolle der SS alle Körperöffnungen, zum Bespiel die Nase, nach Wertgegenständen durchsuchen. „Wenn sie uns zusahen, haben wir es gemacht – mussten es machen. Ohne Bewachung haben wir es gelassen“, berichtet er.

Diese zwei Krematorien waren eine ganz neue Generation“, deutet er auf eine konkrete Stelle in den Ruinen hin. Um die Verbrennungsleistung zu erhöhen, führten zwei Aggregate den Öfen Luft zu. Henryk Mandelbaum zeigt sichtlich erschüttert auf eine Stelle im brüchigen Beton und berührt sie: „Wir haben die Leichen hier hingeschleppt.“ Um den Widerstand der Körper zu verringern und so die Arbeit zu erleichtern, hatte das Sonderkommando den Beton mit Wasser befeuchtet. Manchmal mussten die Häftlinge die Knochen zermahlen, die nicht vollständig verbrannt waren: „Das war wie Mehl“, so der Zeitzeuge. Die Asche der Toten wurde in nahe gelegene Bäche geschüttet. Die SS sprach von dieser Tätigkeit menschenverachtend als „Marine machen“.

Die Vernichtung in Birkenau lief rund um die Uhr in drei Schichten. „Wir waren doch tote Menschen“, beschreibt Henryk Mandelbaum die damalige Ausweglosigkeit im Lager. Von den Krematorien ist heute nur noch ein bisschen Schutt übrig, aber für ihn ist es während des Erzählens so, als stände er noch inmitten der laufenden Vernichtungsmaschinerie:„Wenn die Bäume sprechen könnten und die Sterne, könnten sie mehr erzählen als ich.“

Wir kommen am Krematorium V an. Wieder nur Ruinen: Diesmal keine unterirdischen Bauten, sondern ein ebenerdiger Todeskomplex. Henryk Mandelbaum wartet schon und läuft gestützt auf  seinen Schirm hektisch über die Trümmer. „Wir sind hier auf dem größten Friedhof der Welt“, beginnt er seinen Bericht. Auch die Krematorien 4 und 5 wurden baugleich errichtet. Deutsche Perfektion und Menschenvernichtung im Doppelpack. An einem Haufen Stahlschrott bleibt der Überlebende stehen und erklärt minutiös die Funktionsweise der Öfen. Trotzdem reichte die Kapazität der acht optimierten Anlagen nicht aus, um die Leichen zu entsorgen. „Von dort, etwa 200 Meter entfernt, kamen die Menschen“, zeigt er auf ein Lagertor. Dieser Todesbereich war mit einem Sichtzaun umgeben, so dass der Vernichtungsbetrieb nicht einzusehen war. Henryk Mandelbaum zeigt ein Foto herum, dass die Häftlinge des Sonderkommandos damals illegal aufgenommen hatten: „So hat das hier ausgesehen.“


an den Überresten der Gaskammer Nr. 5

Im Krematorium V gab es zwei als Waschräume getarnte Gaskammern. Wenn die Öfen die Leichen nicht schafften, wurden die Toten auf Scheiterhaufen in großen Gruben verbrannt. Auch er musste gleich am ersten Tag im Kommando die Opfer dort hin schleifen: „Können sie sich das vorstellen, überall aufgedunsene Leichen. Sie lagen doch manchmal länger in der Sonne. Ich nahm den Arm der ersten Leiche und hatte plötzlich die abgelöste Haut in meiner Hand. Ich schüttelte sie ab und für einen Moment stand ich da und dachte nach, ob ich das machen soll. Nun, es wäre kein Problem gewesen. Wenn ich nicht arbeiten wollte, hätte ich eine Kugel bekommen. Dann würde ich heute nicht hier stehen.“ Fluchtgedanken hätten alle gehabt, doch das war schier unmöglich. Wieder kreist ein Foto herum, dass den 86jährigen vor einem Kreuz und einem Davidstern zeigt, wo sich einst die Scheiterhaufen befanden: „Sehen sie, die Bäume sind grün und die Vögel singen“, beschreibt er die heutige Wirkung des Ortes im krassen und nicht vorstellbaren Gegensatz zum einstigen Grauen der industriellen Vernichtung.


Henryk Mandelbaum belegt seine Aussagen mit Dokumenten

Die Menschen, die in Auschwitz-Birkenau ermordet wurden, hatten nicht die Möglichkeit zu leben und eine Familie zu haben: „Eine ganze Generation hatte diese Chance nicht,“ stellt der Zeitzeuge verbittert fest. Auch Henryk Mandelbaums Eltern und drei Geschwister kamen in Auschwitz um.

Ich habe hier ums Überleben gekämpft, da hat mir keiner geholfen“, sagt er zum Abschluss der Führung.

In der Internationalen Begegnungsstätte stand Henryk Mandelbaum für die Teilnehmer der Bildungsfahrt anschließend für ein Zeitzeugengespräch zur Verfügung. Herr Mandelbaum wurde 1922 in der Nähe von Krakow geboren. Er wuchs in einer jüdischen Familie mit 3 Geschwistern auf.

Der Vater unterhielt eine Metzgerei, die schlecht lief. An die Entbehrungen und die Armut in seiner Kindheit kann sich Henryk Mandelbaum noch gut erinnern: „Da haben wir Kohlen geklaut.“ Später arbeitete er schwer in einem Steinbruch und hat so nicht unwesentlich zum Familienunterhalt beigetragen.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen, wurde die Familie 1941 in ein Ghetto deportiert. Dort musste er in einer Baufirma Zwangsarbeit leisten und hörte von polnischen Zivilarbeitern erstmals von Auschwitz. „Meinen Eltern habe ich davon nichts erzählt, damit sie sich keine Sorgen machen.“ Nach einiger Zeit wurde das kleine Ghetto aufgelöst und die Mandelbaums kamen in eine zentrale Sammelstelle für polnische Juden. Nach dem er von der geplanten Deportation nach Auschwitz erfuhr, flüchtete er. Er versteckte sich einige Wochen bei einem SA-Mann und dessen Frau. Schließlich erklärten sie ihm eines Tages, dass er weg müsse. In den nächsten Wochen kam er abwechselnd bei benachbarten Bauern unter. In dieser Zeit trieb er für die Bauern illegalen Handel mit Lebensmittel im nahen Ghetto, aus dem er erst entflohen war. Ein Freund denunzierte ihn und Henryk Mandelbaum wurde verhaftet. Auf der Polizeiwache wurde er fünf Tage brutal verhört und misshandelt. Anschließend kam er in das Gestapogefängnis Sosnowiec. Die Zelle dort war schon mit Juden und Polen überfüllt. Im April 1944 wurde er von Sosnowiec nach Auschwitz überstellt.

In Birkenau kam er zunächst in der sogenannten „Sauna“ an. Dort mussten sich die Menschen unter Schlägen entkleiden, wurden desinfiziert und bekamen die Häftlingskleidung, die zumeist aus Lumpen bestand. „Ich habe das noch nicht glauben wollen, ich habe immer noch an die Freiheit geglaubt,“ erinnert sich der Überlebende an seine damaligen Gefühle. Dann wurde er entmenschlicht und zur Nummer. Henryk Mandelbaum bekam auf den linken Arm die Kennung „181170“ eintätowiert. Seine nächste Station war das Quarantänelager, der Block 7. Dort sah er erstmals das Grauen des Todeslagers: „Dort waren ausgemergelte Leichen, die waren mit Chlor übergossen.“ Nach wenigen Wochen wurde er dem Block 11, dem Sonderkommando, zugeteilt. Die SS begrüßte ihn und andere Häftlinge mit den Worten: „Ihr seit hier, um Leichen zu verbrennen.“ „Da habe ich schon genug gehabt,“ erinnert sich Herr Mandelbaum. Einmal habe er eine Selektion eines Sonderkommandos mitbekommen: „Die haben sie nicht nach Hause gebracht oder in ein anderes Land, sondern zur Vernichtung.“ Nach einer neuerlichen Selektion beschlossen die Häftlinge, Widerstand zu leisten. Sie zündeten das Krematorium IV an.

Nachdem die Rote Armee immer näher an Auschwitz-Birkenau heranrückte, wurde das Lager aufgelöst. In dem Chaos gelang es Henryk Mandelbaum seine spezielle Häftlingskleidung, die ihn als Mitglied des Sonderkommandos auswies, gegen die eines Toten zu tauschen. Das rettete ihn vor dem sicheren Tod. Er gehörte dann zu einem Kommando, dass die Gaskammern sprengen und damit die Spuren der Todesfabrik vernichten musste. Zu dieser Zeit waren noch 40.000 Häftlinge in Birkenau. Im Januar 1945 kam der Befehl zur Evakuierung. „Die haben die Leute nicht nach Hause gebracht oder in ein anderes Land, sondern auf den Todesmarsch.“ Henryk Mandelbaum gelang es bereits am ersten Tag, in der Nähe eines Dorfes zu flüchten. Er kam bei einem schlesischen Bauern unter, der bereits zwei andere Auschwitzhäftlinge und seinen Bruder, einen Wehrmachtssoldaten, versteckte.
Wenig später hörte Herr Mandelbaum von einer Untersuchungskommission, die die Verbrechen in Auschwitz-Birkenau untersuchte. Er meldete sich bei den Verantwortlichen und beschrieb den Vernichtungsvorgang.

Über diese Sache muss man sprechen,“ bekräftigt er nochmals seine Entscheidung, über sein Leben in Auschwitz öffentlich zu reden. Nicht zuletzt wegen der Holocaustleugnung, über die Henryk Mandelbaum entsetzt ist. „Antisemitismus hat keinen Zweck,“ bringt er den antizivilisatorischen Wahn auf den Punkt. Oft wird er heute gefragt, warum er eine deutsche Frau geheiratet hat. Verschmitzt verrät er der Gruppe das Geheimnis: „Weil ich sie liebe“.

Über die Frage, ob die Menschen, die in die Gaskammern gebracht wurden, ahnten, was ihnen bevorsteht, denkt der 86jährige einen Moment nach. „Wir haben ihnen nichts gesagt. Alles musste ohne Komplikationen ablaufen,“ ist die einfache und dennoch kaum begreifliche Antwort.

Daß Henryk Mandelbaum trotz seiner Geschichte die Lebensbejahung nicht verloren hat, scheint offensichtlich: „Trinken, essen und ein Gläschen Wein,“ lautet seine Maxime. „Wenn ich hier in Auschwitz bin und mit Gruppen spreche, lebt für mich alles wieder auf, aber ich nehme es nicht mit nach Hause. Dennoch wird alles in mir bleiben bis zum Ende meines Lebens.“ 

Am Ende des Gespräches bittet er die Gruppe um eine Gedenkminute für die Opfer.

verantwortlich für den Artikel:
Jana Müller
Alternatives Jugendzentrum e. V. Dessau
Schlachthofstr. 25
06844 Dessau
Tel.: 0340/ 26 60 21 9
e-mail: ajz-dessau@web.de

Steffen Andersch
Projekt gegenPart
Netzwerkstelle gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus
Schlachthofstr. 25
06844 Dessau
Tel./Fax: 0340/ 26 60 21 3
e-mail: projektgegenpart@gmx.net
web: www.projektgegenpart.org

News

 

projektgegenpart ist umgezogen

 

weiter...

3. Workshop für Bürgerbündnisse und lokale Akteure: "Vor Ort aktiv gegen Rechtsextremismus – gemeinsam oder einsam?"

weiter...

Amtsgericht Burg: Rechte Schläger wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt

weiter...

Neues von der Kampagne "Kein Bock auf Nazis"

weiter...

Verlegung der ersten Stolpersteine am 19. Mai 2008 in Dessau-Roßlau

weiter...

1708 Opfer rechter Gewalt in Ostdeutschland

weiter...

Spendenaufruf für Zeitzeugenarchiv

weiter...

gemeinsamer Spendenaufruf für Oury Jalloh

weiter...






Augen Auf! > Ausgabe 37 - 13. September 2006